Geh nicht

Warmer Wind umbraust mich, Sturm eigentlich, wie Fön, Fallwind ohne Gebirge. Es ist Sommer, trotzdem fallen die Blätter, hellblau sind sie, gelb mit dunklem Rand, rotorange gepunktet und schmutzig weiß liegen sie in der Sonne, bis sie plötzlich aufflattern und wieder Schmetterlinge sind. Seit Wochen ist Sommer.
Heute ist es anders, ich merke es gleich, als ich in die langen Schatten innerhalb des hellgelben Zimmers trete, dieselben Schatten haben sich in ihr liebes Gesicht gegraben, Schmetterlinge torkeln gegen meine Bauchwand. Mit Bedacht hänge ich den Mantel an den Garderobenhaken hinter der Tür, lockere Krawatte und Gürtel und setze mich zu ihr ans Bett. Sie wirkt schwächer als sonst, leiser, zarter, noch leichter als die Drachen, die wir am Strand durch den Seewind unserer jungen Jahre trugen, leicht wie ein Schmetterling, der nicht fliegt.
Das große Fenster fängt nur wenig Licht für uns ein. Im Feierabendverkehr habe ich viel Zeit verloren. Kein Vorwurf von ihr, sie schaut mich an mit diesem Ausdruck des eingelösten Versprechens, der jede Fahrt durch jeden Stau auf jeder Stadtautobahn wert ist, sie hat ihren Frieden gemacht mit dem Warten, irgendjemand sucht und findet sie, entweder ich oder der folgende Tag oder das nächste Leben.
„Gut siehst du aus“, sie sagt das nicht nur so. Immer achtet sie auf meine Garderobe, schätzt die Mühe, die ich darauf verwende, bevor ich zu ihr aufbreche und ich merke ihr an, dass sie gern Rouge aufgelegt hätte, mich lieber mit geordnetem Haar empfangen hätte und ich streiche die dunklen Strähnen aus ihrem blassen Gesicht. Immer begrüßt sie mich, als kehrte ich nach Hause zurück: „Erzähl mir von deinem Tag, Schatz.“
Sie lebt das Leben mit, soweit ihre Vorstellungskraft reicht. Lächelnd quittiert sie meinen Bericht, in dem ich mich gegen den Chef behaupte. Bis ich eines Tages selbst Chef bin, wie sie gerne sagt. Sie singt begeistert jeden Song, den ich für die Gitarre komponiere, das Instrument ist heute nicht dabei, ich hatte Eile, rechtzeitig da zu sein, wenn sie wach ist. Sie spitzt die Ohren für Friedas und Jennys Erfolge in der Schule. Die Zeugnisse, die sie zuletzt unterschrieb, sind deutlich verbessert. Auch die Mädchen sind heute nicht dabei. Bewusst enthalte ich ihnen diesen Moment vor, mit Absicht stehle ich ihn aus ihrem jungen Leben. Später wird man mir den Vorsatz vorwerfen, vielleicht.
Später werde ich erklären, dass nicht ich es war, der die beiden fernhielt. Es war die Zeit, die nur einen Besucher erlaubte, obwohl es menschengemachte Regeln sind. Sie nickt, als hätte sie nichts anderes erwartet. Die Weisheit des Vorausgehenden, unaufdringlich spendiert. Heute ist es mühsam, ihr warmes Lächeln ist dasselbe, doch die Aufmerksamkeit flieht.
Seit zwei Wochen frage ich nicht mehr. Zuerst konstruierten wir Witze, wir verfilmten den Murmeltiertag neu mit ihr in der Hauptrolle. Was für eine Komödie das wäre, getragen von ihrem unbeugsamen Humor. Irgendwann schwand die Hoffnung auf das Happyend, mit jedem stummen Kopfschütteln, mit jedem tiefem Seufzer von Pflegeschwester und Arzt, mit jedem schwächeren Atemzug wird es klarer. Zweifel quälen mich. Was hätte ich anders regeln können? Versteht sie, wie dankbar ich bin für die Zeit mit ihr?
Ich nehme ihre Hand, fahre die Linien auf der Innenseite ab, zeichne ein Herz hinein. Sie hat die Augen geschlossen. Ich stelle mir vor, wie sie meinen Berührungen nachspürt, als wären wir in den Ferien am Strand und malten uns gegenseitig Bilder und Buchstaben auf den Rücken, mit Fingern und Sonnencreme, rate, was ich gemalt habe. Kurven, Linien und Punkte verschwimmen auf den Monitoren neben ihrem Bett.
Wie oft haben wir den Abschied geübt, Murmeltiertag, ihn zelebriert, als wäre es der letzte. Wie jedes Mal, wenn die Schatten zur Nacht werden wollen, sagt sie: „Geh nicht.“
Unnötig, denn Fallwinde halten mich auf, Ostseesand tropft durchs Stundenglas und Schmetterlinge in meinem Bauch taumeln als Herbstlaub auf den Grund meiner Seele. Heute bin nicht ich es, der geht. Es ist ihr Abschied und sie wird nicht aufstehen dafür.

experimentelles Schreiben – Schreibexperiment 5

Experimente soll man nicht erklären. Nur so viel: Die gestrichenen Passagen sind absichtlich sichtbar.

Ich will Ihren Mann
Steigen Sie in die U-Bahn, forderte die Therapeutin von mir. Überwinden Sie sich! Vergessen Sie die befürchtete Erfahrung, es ist keine vorausgehende Ahnung, nur vorweggenommene Furcht, sagt sie, nehmen Sie Platz wie ein neugieriges Kind, wie ET, der vorher niemals U-Bahn gefahren ist, seien Sie ein Außerirdischer, der zum ersten Mal in das tunnelhafte Weltall im Innern der Erde taucht und staunt.
Drew Barrymore zieht mich ins Zugabteil und lässt mich los. Ich setze mich und sehe sie nicht mehr. Meine Augen sind geschlossen, weil, wenn sie offen wären, könnte mir bewusst sein, dass ich in der U-Bahn in meiner Erinnerung gefangen bin. Wie sehr ich mich heute für meinen Wunsch schäme. Wie selbstsüchtig ich war und gleichzeitig wunderbar selbstsicher. Der Gedanke, am Ende wäre mein Platz in deinen Armen, ließ mich auf jedem Grad wandern, als wären es blühende Wiesen.
Mein Kopf lehnt wieder an einer Scheibe, einem Spiegel für das Wageninnere. Doch ich sehe etwas Vergangenes. Ich beobachte sie, sie schaut überall hin, vor allem über mich hinweg, dann dreht sie sich um zu dir, gerade als du mich anlächelst. Mutig warst du, mir zuzuflüstern: Trau dich! Und erschrocken, als ich mich traute und dich mitriss, mitten hinein in das Liebes- Abenteuer unseres Lebens, von dem keiner wissen konnte, wie es endet. An dem Tag schärfte ein Handwerker vor dem Regent Hotel sein Messer am Granit der Bordsteinkante, dass die Funken nur so sprühten. Ritsch-ratsch, ritsch-ratsch. Ich habe mich heute hinuntergebeugt und nachgesehen, der Stein trägt keine Zeichen der Abnutzung.
Ich habe große Lust, mich zu übergeben, in ein ferngesteuertes Schicksal, in fremde Hände, solange es nicht deine oder ihre sind, dem Sodbrennen nachzugeben wie der Reiher vor seinen Jungen unten am Fluss auf dieser Insel, die Wasserfontänen sprudelten in Reihe im Kaskadenbrunnen, da sah ich euch zum ersten Mal zusammen. Euch beide, seit Ewigkeiten ein Paar, ihr seid Granit, eine Kirche ist auf eurem Fels gebaut. Die Wasserfontänen tanzten im Sonnenlicht wie kleine Gespensterkinder, die mit ihren Laken spielen, kleine weiße, heiße Kerzenflammen, lauter sprudelnde Schwänze, vier Stück in drei Wasserbecken, vier Mal dein Schwanz innerhalb von drei Stunden, mir ist schlecht und mein Bauch tut weh. Und überhaupt ist gemeinsam Essen viel gesünder als gemeinsamer Sex. Man wird nicht notwendig dick dabei.
Die Frau fällt mir ein, die neben dem einfahrenden Zug herlief, sie stolperte und schlug der Länge nach auf die Bahnsteigmarkierung am Rand, rollte ein bisschen, nur ein bisschen und dann kam der Zug mit der Tür genau vor mir zum Stehen. Man half ihr auf, stellte sie auf die Füße, sie nickte dankbar und atemlos und ich fand, sie wirkte verstört. Fragte sie sich, warum sie gelaufen war? Gab es nicht mehrere Türen am Zug, musste es ausgerechnet diese Tür sein? Sie war älter als ich, etwa im Alter deiner Frau. Ich beeilte mich, in einen anderen Waggon zu steigen, der Gestürzten wäre ein Sitzplatz sicher, mir, so ich ihr den Vortritt gelassen hätte, wäre diese Aufmerksamkeit sicher nicht zuteil geworden.
Ich habe, ich hatte viel Gelegenheit, darüber nachzudenken, was aus uns werden soll. Ich, die ich ständig an dich denke, sie, die an mich und dich denkt, du, der sich daran erinnern muss, dass ich an dich denke. Es macht einen Unterschied, der Haken auf einer to-do-Liste oder selbst die Wunschliste zu sein. Ich kann immer noch sagen, wann ich das eine oder das andere für dich war. Für sie war ich weder noch, sondern Versuchung und Fluch.
Ich habe, ich hatte, ich habe gehabt, was andere gern hätten. Ich bin zu ihr gegangen, war gegangen mit ihr an deiner Seite, dann bin ich gegängelt worden und wieder gegangen. Neulich habe ich einen Politiker sagen hören: „Ich glaube, es ist falsch zu glauben …“ Ab dann hörte ich nicht mehr zu, ich dachte über Glauben nach und Kirchen auf Granit, an Wasserfontänen und dunkle Laubengänge. Dort im Schatten saß ich, aus dem Schatten heraus sah ich euch im Licht wandeln, selbst unsichtbar, uninteressant, als wäre ich aus Stein. Eine Statue. Bin ich das? Vielleicht ja, vielleicht nein. Die Leute gehen an ihr vorbei, sie starren auf die nackte Unbewegtheit und sehen nicht, dass sie sogar im Schatten glänzt.
Ich habe, ich hatte, ich habe gehabt, ich hätte gern eine neue Chance, meine Wurzeln und festen Halt zu finden. Halt ist wichtig. Haltlos ist unstet, unsicher, sturzgefährdet, haltlos fällt auf, fällt hin. Manchmal neben einen Zug. Manchmal davor. Kann ich doch nicht ändern, wenn sie sich ihre Zeit lieber an ihrem Mann vertreibt als mit mir, mit Jemand anderem als ihrem Mann, damit ICH ihren Mann haben kann.
Ich habe, ich hatte, ich habe gehabt, ich hätte gern, ich hatte mal … den Plan einen Zug zu besteigen.

experimentelles Schreiben – Schreibexperiment 4

Maskenball
Noch zwei Tage.
Elena atmete aus, sie lehnte mit der Stirn am Fenster, die Scheibe beschlug, aber hindurchschauen konnte man schon länger nicht mehr. Wann hatte sie aufgehört, die Fenster zu putzen, wann hatte sie aufgehört, sich für die Aussicht zu interessieren? In zwei Tagen spätestens sollte der Wald hinter dem Haus besser wieder zu sehen sein, zumindest die Farbe. Grün beruhigt das Auge, mit viel Ausdauer auch die Seele. Allerdings würde ihre Mutter so viel Hinausstarren verdächtig finden und das Geheimnis wäre in Gefahr, aufgedeckt und zum Problem zu werden. Dann nämlich würde Elena der Vortrag über Schandmasken nicht erspart bleiben, den ihre Mutter sonst den Besuchern im Germanischen Nationalmuseum über die Ehrenstrafe von Ehebrechern hielt und den Elena schon auswendig kannte. Ganz zu schweigen von der Wiederholung des anschließenden Vortrags, was sie für eine nichtsnutzigen Tochter wäre.
Eine Schandmaske hatte Elena nicht getragen, als sie und ihr verheirateter Liebhaber die Lieblingsszene aus Fifty Shades of Grey nachspielten. Schwarze Spitze mit Glitzer und Seidenbändern zum Binden. Über den Augen, über der Brust und die Bänder auf den Hüften hatte er zuerst geöffnet.
Elena schob den Stuhl vor das Küchenfenster. Für Ehebetrug wurde man im Mittelalter an den Pranger gestellt oder hingerichtet. Durch Hängen zum Beispiel. Die Schandmaske war lediglich zur Bestrafung von minder schwerem Fehlverhalten gedacht.
Elena hob den Eimer mit dem Wasser auf den Stuhl und lachte kurz auf. Die Masken wären in der Gestaltung der Art des Vergehens sehr ähnlich, hieß es. Vernachlässigte Ordnung und Sauberkeit, wie würde die Maske dafür wohl aussehen. Mit Federn und Borsten gespickt, weil man damit früher Staub wischte und fegte? Das Ergebnis käme der venezianischen Karnevalsmaske von neulich sehr nahe.
Es klingelte an der Tür. Erst der Schreck, dann die Panik. Zu früh! Zwei Tage zu früh! So war das nicht verabredet. Es half ja nichts. Elena zog die Gummihandschuhe aus und öffnete. Und erfuhr sogleich Erleichterung. Nicht ihre Mutter, sondern Sophie, ihre Freundin, ihre ab heute allerbeste Freundin stand in Kopftuch und Schürze mit Müllbeuteln und Schrubber bereit, ihr zu helfen.
„Sophie! Dich schickt der Himmel! Komm rein, wenn du dich traust.“
„Hey, Ehrensache. Der Notfall war selbst am Telefon nicht zu überhören. So viel schlimmer als bei meinem letzten Besuch wird es schon nicht sein. Herrgott, Elli! Was ist passiert? Wie kann man im schicken Wannsee in so einer Dreckbude wohnen?“
„Ganz leicht, wenn das Leben einen ständig überholt.“
„Mensch, Elli, du hast dich im Stolpern überholt. Erst Aufräumen, danach Saubermachen! Ich fang mit dem Fenster in der Küche an, an deiner Wäsche mag ich nicht rumfalten, das mach mal schön selbst.“ Sophie verschwand und ließ Elena im Wäschechaos zurück. Wer faltet denn heute noch Socken und Unterhosen?
Die T-Shirts und, noch schlimmer, die Blusen sahen selbst übereinander gestapelt geknüllt aus. „Arrgh“, knurrte Elena und nahm sich die Wäschestücke erneut vor, mit mehr Konzentration und zitternden Fingern. Bis sie den Kaffeefleck auf der hellblauen Bluse bemerkte. „Ach du liebe Zeit, der ganze Haufen muss erst gewaschen werden.“ Sie raffte alles zusammen und trug es ins Bad, stellte das Universalwaschprogramm ein und schaute nach, wie lange die Waschmaschine damit beschäftigt sein würde. Elena nahm sich die Reinigung des Bades in derselben Zeit vor.
Sie fing damit an, die Gratisproben am Waschbecken nach Behalten und Wegwerfen zu sortieren. Kosmetika, die richtig guten Sachen, waren viel zu teuer, um sie zu kaufen. Gegen Ausprobieren sprach jedoch nichts. Elena trug die dicke Creme auf, die sich bei genauerem Lesen der Ameisenschrift als Erfrischungsmaske entpuppte. Auch gut. Und witzig. Jetzt konnte sie in Sachen Augenmaske mit jedem Comic Helden mithalten. Was roch denn hier so merkwürdig? Elena linste in Richtung Klo und schmeckte Ekel auf der Zunge. Sie schaute nicht erst nach, sondern kippte den Inhalt des WC-Reinigers komplett ins WC-Becken und ließ den Deckel sofort wieder zuklappen. Sie hörte es blubbern und zischen und brodeln darin. Vorsichtig hob sie den Deckel wieder an. Ätzende Dämpfe stiegen ihr entgegen. „Puh, davon kann einem ja schwindelig werden!“ Schnell beugte sich Elena zum Fenster und öffnete es weit. Eine Wespe folgte der Einladung, flog eine Runde durchs Bad und summte zurück an die frische Luft. Elena hätte schwören können, die Wespe wäre maskiert gewesen. Giftige Dämpfe können sich entwickeln, stand als Warnung auf der Reinigerverpackung. Vielleicht sollten sie die Gasmaske gleich mitliefern. Elena wandte sie sich den restlichen Proben am Waschbeckenrand zu, entschied, sie alle zu behalten. Danach wischte sie den Spiegel, die Ablage, den Boden der Dusche, die Oberflächen der Fliesenkante, bis ihre Haut zu spannen begann. Erschrocken betrachtete sie sich im Spiegel. Zu lange draufgelassen, zu trocken geworden, hatte die Erfrischung sich in eine Totenmaske verwandelt. Nun aber runter damit.
Sophie klopfte und öffnete die Badtür. „Alles in Ordnung bei dir? Du hast das Telefonklingeln überhört. Bis auf dieses Fenster sind alle geputzt und ich sehe, du bist fast fertig. Gut so, deine Mutter hat nämlich gerade angerufen, sie ist gleich da. Sie möchte vom Bahnhof abgeholt werden in 15 Minuten.“
Gestresst, überhaupt nicht erfrischt und kaum mit Grün für die Seele aufgeladen stand Elena am Bahnsteig, als der Zug einfuhr. Ihre Mutter war schlecht gelaunt, trotz des groß geblümten Stücks Stoff über ihrem Gesicht gut zu erkennen. Sie zog den Koffer zu Elena, die sich nicht gerührt hatte, stemmte die Hände in die Seiten und sagte: „Das war vielleicht eine Fahrt! Überall Wespen im Abteil! Und wieso, in drei Teufels Namen, trägst du keinen Mund-Nasen-Schutz?“ Elenas Lust auf Mutterbesuch bröckelte wie eine zu lang getrocknete Erfrischung von ihrem Gesicht.

experimentelles Schreiben – Schreibexperiment 3

Relativ
Die Versammlung war zu Ende und die Aufgaben verteilt. Thema war schlicht und ergreifend die Zukunft, beziehungsweise ihr aller Überleben gewesen, denn sie hatten erfahren, dass zum nächsten Werktag der Schädlingsbekämpfer bestellt war.
Die Population der längsgestreiften Wespen hatte im langwierigen Prozess um Anerkennung ihre Andersartigkeit aufgegeben und sich mit quergestreiften Westen bekleidet und angepasst. Doch im gleichen Maße, wie sie ihre Toleranzfähigkeit demonstrierten, verloren sie die Sonderstellung eines schutzwürdigen indigenen Naturvolkes. Unter diesen vorher nicht bekannten, nun veränderten Voraussetzungen würden sie außerdem ihr Heim verlieren. Ihr Nest war bei der Schließung und dem begonnenen Rückbau des Restaurants entdeckt worden, das jahrelang als naheliegende exquisite Futterquelle sowohl für das Westenwespenvolk sowie für stinknormale Flügelträger und Gäste des angegliederten Hotels den Tisch gedeckt hatte. Nun war ein Umzug bitternötig geworden und Kundschafter sollten neue Wohnmöglichkeiten und die bestrealisierbare Variante für die Umsiedelung des behäbigen Volksstammes erschließen. Selbstverständlich war die Angelegenheit als hochgeheim eingestuft und so wusste Niemand außerhalb der summenden Gemeinschaft von der geplanten Aktion.
Trotz seiner Vorsicht wurde ein Flugpionier dennoch bei seiner Arbeit entdeckt, zum Glück aber nicht enttarnt. Eine Frau war im Zug, der aus der Stadt hinaus ins blühende Land fuhr, auf das schwarzgelb gestreifte Fluginsekt aufmerksam geworden. In diesen Sekunden waren ihre Gedanken aufgrund eines merkwürdig bedrohlichen Anrufs zuvor auf sehr vielfältige Weise mit der Gefahr an sich, für sich und jede weitere beteiligte Person beschäftigt gewesen, was ihre erhöhte Sensibilität für die Absonderlichkeit einer Wespe im 2.Klasse-Abteil des Regionalexpress‘ erklären mochte.
Die Wespe war ihrem Auftrag gemäß zuverlässig am letzten innerstädtischen Bahnhof in den Zug eingeflogen. Dort hielt sie sich an die unter Insekten geltenden Abstandsregeln und umkreiste gekonnt die auf einen Abteilsitzplatz wartenden und deshalb im Ein- und Ausstiegsbereich stehen gebliebenen Fahrgäste. Außer unterschiedlichen Höhenverhältnissen der Decke fand sich nichts Interessantes an dieser Höhle. Mühelos durchbrach sie die für Menschen anscheinend äußerst hinderliche Barriere zum Abteil, wobei sie geschickt den schmalen Spalt zwischen den Glaswänden zu nutzen wusste. Der Zug setzte sich in Bewegung, als die Wespe die Beschaffenheit der Zwischendecke in Augenschein nahm. In diesem Moment geschahen zwei Dinge. Erstens wurde die Wespe von den übrigen Passagieren wahrgenommen. Zweitens legte der Zug an Geschwindigkeit zu und erhöhte somit insgesamt die Geschwindigkeit, mit der die Flügelarbeiterin auf ihrem Kundschafterflug unterwegs war.
Während einige der Fahrgäste sich respektvoll duckten, um der Verwirrtheit des Insekts Raum zu geben, beobachtete die alarmierte Frau mit Stift und Notizheft besorgt die Entwicklung des Geschehens. Würde die Wespe den auf sie einwirkenden Kräften der Beschleunigung gewachsen sein? Als sich neben den Fenstern ein anderer Zug vorbeischob, war klar: dies war eindeutig ein Fall für Albert Einsteins Relativitätstheorie. Das kannte man ja. Flog die Wespe in dieselbe Richtung, in die der Zug fuhr, würde ihr das leichter fallen. Bewegte sie sich in die entgegengesetzte Richtung, hätte sie den Widerstand der fremden Bewegung zu überwinden. Oder nein, es war genau umgekehrt. Bei Flug in Fahrtrichtung des Zuges wirkten die Kräfte doppelt auf das Insekt wegen der kumulierten Vorwärtsbewegung, während der Rückweg im Flug durch die Gegenrichtung des Zuges bereits erledigt war, wenn sie sich in der Abteilluft nur auf derselben Stelle hielt. Irgendetwas war falsch an der Theorie. Aber was? Stimmte die Zuordnung der festen und bewegten Objekte zueinander nicht oder die Relation drinnen zu draußen? Wie behält man dabei die Orientierung? Die Wespe jedenfalls schien zu torkeln, purzelte in der Luft vor und zurück. Bestimmt war ihr schon übel, weshalb sie sich kraftlos an den grauen Kunststoffgittern unterhalb der Decke abfing. Das Insekt beeindruckte die Neugierige mit Cleverness, offenbar leckte es die Schweißspuren an der Gepäckablage über den Sitzen ab. Dass Salz auch unter Wespen als altbewährtes Hilfsmittel gegen Schwindel und Übelkeit galt, überraschte die stille Beobachterin. Schlussendlich hatte sie die ganze Sache doch falsch betrachtet, weil kein luftleerer Raum bestand wie im kosmischen Vakuum. Vielleicht fühlte es sich für das Insekt danach an? Da, die Wespe untersuchte offenbar kurz vorm Ersticken die Lochstanzungen in der Decke auf Luftzufuhr. Ach herrje, die arme Wespe. Würde das Lungenvolumen des Flügelwesens diese Überlastung ertragen? Wie unvorbereitet das kleine Ding in diese schrecklich kräftezehrende Situation geraten war!
Den Ängsten der Fahrgäste im Allgemeinen und den Bedenken der Frau mit dem inzwischen steifen Genick im Besonderen sehr fern und davon unbeeindruckt, schloss die Wespe ihre empirischen Untersuchungen zeitgerecht ab, las schnell die Streckenbeschreibung auf dem Plakat, bevor sie am nächsten Halt in Wannsee auf den Bahnsteig flog und mit relativ interessanten Erkenntnissen den Rückweg zum Noch-Nest antrat.

experimentelles Schreiben – Schreibexperiment 2

Der große Blubb
Fahrud schenkte sich die zweite Tasse Kaffee ein. Schwarz und süß, so gehörte sich das. Bereits am Frühstück die zweite Tasse Kaffee gehörte sich jedoch nicht, jedenfalls nach Ansicht von Fahruds Hausarzt. Pah, was der schon palaverte! 73 Jahre war Fahrud alt geworden ohne seine Top Form einzubüßen. Er besaß mindestens einen Pass, der ihm das rüstige Alter von 65 bescheinigte, und wenn er ohne Ausweis, komplett inkognito unterwegs war, gab er sich sogar als 60jährig aus. Das war nie ein Problem. Mit Fechten und Kegeln und noch so einigen anderen nützlichen Sportarten hatte er den körperlichen Verfall gut aufgehalten, auch seine Ehen hatten ihn nicht ruiniert. Fahrud liebte seine Frauen und daneben ein bisschen sich selbst. Ein bisschen war ihm das bewusst, denn er betrachtete sich nicht nur äußerlich vor jedem Spiegel, sondern auch ausgiebig von innen, wann immer sich Gelegenheit dazu bot. Das war von Berufs wegen bei ihm öfter der Fall, als bei anderen Berufstätigen, aber zusätzlich stellte er sich die körperlichen Vorgänge und Abläufe oft bildhaft vor, wo er sie nicht sehen konnte.
Wie jetzt zum Beispiel, wenn die schwarzbraune Flüssigkeit am Schleim der Speiseröhre hinab zur Pforte des Mageneingangs spülte und dabei alle unzerkauten Reste des Rühreis -so etwas brauchte man ja nur runterzuschlucken- und des Pfannkuchens mit Blaubeeren als nicht näher bestimmbaren dunkelfarblosen Brei dem nächsten Schritt der Verdauung zuführte. Blubb, machte es wahrscheinlich, wenn der breiige Klumpen in den Magensäuresee platschte. Möglicherweise schwammen noch Überbleibsel des leckeren Grillgelages vom Vortag dort herum. Putenfleisch gegrillt und gebraten, Tatar aus Rind und Schwein, die offizielle Ignoranz, die er gegenüber den muslimischen Gewohnheiten an den Tag legen musste, um seine Legende nicht zu gefährden, war keine schwere Prüfung für ihn. Nach der westlichen Art zu leben, bedeutete, die Hotel-Speisekarten auskosten zu können und bescherte seinen Gedärmen reichlich wichtige Arbeit. Fahrud spürte die Gaseblase, die sich aus der schaumigen Oberfläche löste und den Rückweg durch die Speiseröhre antrat. Er rülpste zufrieden, strich sich über den straffen Bauch und griff nach der Morgenzeitung. Parallel startete er die Headline Suche im Internet. Ja, die Russen, die Amerikaner, die Chinesen, alle waren sie auf den ersten Seiten vertreten, aber nur mit Altbekanntem.
In Social Media, da standen die wirklich neuen Dinge, die, auf die man aufpassen musste, weil die Ahnungslosen oft die größten Geheimnisse ausplauderten. Fahrud bekam fast Stielaugen und beugte sich dicht über die kleinstgewählte Schrift im BLOG dieser unbedeutenden Möchte-gern-Autorin. Die wahre Wahrheit hieß der Artikel und befasste sich mit der Möglichkeit eines Giftanschlags auf Systemkritiker jedweder Nation in einem Fünf-Sterne-Hotel, angeblich als These für ein neues Romanprojekt, zu dem die Autorin um Recherchehilfen bat. Das würde wohl mindestens eine Telefonkonferenz auf den Plan rufen. Fahrud kratzte sich das Brusthaar zwischen den kuscheligen Aufschlägen des Bademantels und schlurfte ins Bad. Ihn zu vergiften könnte einfach sein. Er starrte auf die Galerie von Tabletten über der Waschtischablage, die ihm sein Arzt verordnet hatte. Nicht jede seiner Frauen kannte die ärztliche Anweisung, geschweigedenn den Arzt. Keine seiner Frauen brauchte überhaupt irgendeine Tablette, die jüngste und seine Geliebte nahmen nicht mal die Pille! Besonders genau prüfte Fahrud heute die Unversehrtheit der Blister und Formen und Farben der Medikamente, er wusste wie Bluthochdruckblocker, Cholesterinsenker und Blutverdünner auszusehen hatten. Mit einem Schluck Wasser schickte er die dringlichen Argumente des Doktors auf die Jagd nach den Verrätern der Jugend. Dennoch hatte Fahrud noch nie eine der besonders blauen Pillen nötig gehabt, schon gar nicht morgens.
Er öffnete den Bademantel und stellte sich vor den Spiegel. „Na“, begrüßte er seinen Lieblingsgesprächspartner. „Bereit für die zweite Runde?“ Mit der Hand half er der Aufrichtung nach, drückte die Bälle in Form. Das war nicht geschummelt, an anderen Tagen war mehr notwendig. Manchmal fragte er dann nach der Bereitschaft für einen Kampf. Das letzte Mal war sein Kamerad im Ehesex so heiß geworden, dass er sich wie ausgelagertes Fieber angefühlt hatte. Die Ladehemmung war nicht verwunderlich gewesen. Über die inneren Vorgänge hatte Fahrud gar nicht nachdenken mögen. Seit jedoch seine ersten beiden Frauen sich aus der Abteilung abgemeldet hatten, kam die Kampfbereitschaft in seinem Wortschatz nicht mehr so oft vor.
Seiner Bettgesellin hatte der Frühstücksschlaf gutgetan. Pralle, erdbeerrosige Wangen, pralle, himbeerrosige Brustwarzen und pralle handschmeichelnde Brüste verjüngten Fahruds Befinden in Sekunden. Von 73 Jahren gefühlt weit entfernt, kein warnender Spiegel mehr in Sicht, stürzte er sich in die schönste Nebensache der Agententätigkeit, vergrub sich in ihre Haare, versenkte sich zwischen die Schenkel, vertiefte sich in Betrachtungen seiner inneren Männlichkeit. Ihm war klar, dass das Blut in seine Mitte strömte, dort pumpte es bestimmungsgemäß Stabilität. Er spürte das Ziehen in den Leisten, ein Zeichen für den Sog, wenn das Gebot aufgerufen wurde. Heute verstärkte die aktive Peristaltik die Empfindungen im Leib über die Körpermitte hinaus. Das Kribbeln in den Hoden setzte ein, breitete sich ungewohnt weit aus. Fahrud sah die elektrischen Impulse der Erregung als Blitze vor sich, jeder Lichtpunkt hinter den geschlossenen Lidern steigerte die Erwartung. In seiner Vorstellung setzte der silbrige Strom aus den Seiten sich in Gang, nahm den Weg durch den Tunnel, angefeuert von glückverheißenden Muskelzuckungen bildete sich an der Spitze bereits eine Blase, die im nächsten, kleinsten spitzen Exstaseschrei seiner Quasinichte zerplatzen würde. Der Schrei kam, spitz und laut. Blubb, machte es, doch der Silberstreif blieb aus. Mit offenem Mund schnappte Fahrud nach Luft und staunte. Er fühlte den Blubb noch immer sehr deutlich, selbst seine Brust hatte ihn gehört, er war so laut gewesen, dass das Echo in seinem Kopf das Bild einer Druckwelle auslöste, bei der die zum Herzen führende Ader verstopfte und riss. Ganz kurz hatte Fahrud Gelegenheit, sich das blutige Desaster in seinem Innern vorzustellen, bevor sein Gehirn entschied, dass diese Vorgänge besser geheim gehalten blieben.

experimentelles Schreiben – Schreibexperiment 1

Schreibspaziergang
Was Interessantes. Irgendwas Experimentelles, ohne Themenvorgabe. Ich darf nicht auf die Stimmen in meinem Kopf hören. Alles ist erlaubt. Bis über die Grenzen des Gewohnten und des Gewöhnlichen hinaus. Sind Stimmen im Kopf gewöhnlich, wenn sie gewohnt sind? Es soll atemlos machen, fassungslos, pausenlose Diskussionen anregen, Achtsamkeit erzeugen.
Huch, aufgepasst! Das kommt davon, wenn die Sinne falsch ausgerichtet sind. Eine sechsspurige Stadtlebensader. Hier passiert bestimmt öfter Interessantes. Ein Verkehrsunfall zum Beispiel, ein unachtsamer Fußgänger wird überfahren. Kann man darüber schreiben? Was ist experimentell daran? Heute ist es vielleicht neu, aber morgen ist anderes besser und moderner und noch schräger. Ist nicht das gestern Geschriebene genug? Bist du nicht atemlos von der Jagd, sei ehrlich, du bist eine Getriebene. Hockst dich nieder, um zu schreiben, statt auszuruhen und zu genießen. Gib Acht, sei achtsam. Hast du den Wahrnehmungskurs schon vergessen? Seid still!
Wahrnehmung mit allen Sinnen. Okay, wie ging das nochmal? Sehen, hören … hat ja gut geklappt mit dem über-Präfix. Die Straße übersehen, den Lärm überhört. Fast hätten Stoßstange und Kotflügel mich ans Fühlen erinnert, dann würde ich jetzt Abgase am unmittelbaren Ausscheidungsort riechen, vielleicht sogar Blut schmecken. Brauchst du alle Sinne, um Grenzen zu testen? Die Autoreifen vor der Ampel stöhnen ob der verpassten Chance. Sie keuchen auf beim Abbiegen in der nächsten Kurve. Wieder verpasst. Flapp, flapp, ffflllaaappp springen die Tauben träge beiseite, picken nach den verlorenen Süßkartoffelpommes vom Dom Curry. Nada, kein Curry. Njet müsste es heißen. Von Curry keine Spur, die Luft ist erfüllt von zu viel Fritteusenfett, hier vor dem fünf-Sterne-Hotel und drinnen erst recht ist Russengebiet. Heb die Nase und du erkennst süßes Parfüm, geleckte Haare und gestreichelte Bärte. Das ist leicht. Schreib es auf oder lass es. Du willst mehr, ich weiß!
Das Geflüster der Metallschrauben an den Laternen fasziniert, sie leiten das Echo, das Getuschel der Kondome und der Glanz der Spritzen unten den feuchten Tempos im Abfall gehören zur höheren Laufbahnprüfung des Autors. Dazu muss man sehr genau in sich hinein horchen, an den inneren Stimmen vorbei hören, denn die Besonderheiten des Verborgenen wählen nie die Gerade, sondern den Umweg durch das Medium, um jede Berührung mit dem Gewöhnlichen zu vermeiden.
Kommt ein Russe mit Kondom und Spritze in ein fünf-Sterne-Hotel. Klingt wie der Anfang von einem Witz. Einem schlechten Joke. Lässt sich daraus eine würzige Buchstabensuppe kochen, ein fernöstlicher Tee? Bong!! Die Wahrheit macht mich sprachlos. Wieso etwas ausdenken, was längst passiert ist! Habe ich gerade aufgedeckt, dass an diesem Ort ein Systemkritiker vergiftet wurde? Nie, niemals am Flughafen, vor lauter Überwachungskameras. Ich vergesse Luft zu holen. Na bravo. Eine Geschichte über ein menschliches Experiment, für die mehr als die Grenzen des Gewöhnlichen überschritten werden, sobald sie vorgetragen und veröffentlicht wird. So oder so. Hörst du auf die Stimmen, fangen sie dich, höre ich nicht auf sie, kriegen sie mich. Worauf warten?

Auf dieser Seite stelle ich Kurzgeschichten und Szenen vor, die entweder Kurs-Hausaufgabe im Beschreiben waren Das Geschenk, Das Vorbild oder sich bei der jährlichen Tegeler Schreibwerkschau vor Publikum bewährt haben Gleiswechsel, Nach Gestern kommt morgen, Kein Zurück.
Deswegen gibt es die Texte auch als Hörversion unter Zu(m)Hören.

Seit Oktober 2021 gibt es außerdem eine „Kleine Werkschau“ mit einer Auswahl von Kurzgeschichten und Gedichten, Lyrik und Prosa im Mix ergänzt mit Fotografien, in einem handlichen 51-Seiten Heft A5. Siehe auch im BLOG Eintrag unter dem 16.10.2021.

Das Vorbild

Die Tür des Hörsaals öffnet sich und eine Gruppe von drei Männern und zwei Frauen fädelt sich zu den Plätzen zwischen Tafel und Dozentenpult ein. Ich erkannte ihn sofort, obwohl das Autorenbild nach meiner Meinung retuschiert worden war.
Zu der Abbildung auf der Buchrückseite bestand nur eine scheinbare Ähnlichkeit. Dieses Gesicht lebte. Weit entfernt von der freundlichen Schablone auf dem Pappdeckel atmete es Erfahrungen aus, die sich nur schwer in 67 Jahre menschlicher Existenz pressen lassen. Es erzählte von Sonnentagen ohne Schutz und Gnade und Nächten voll Arbeit. Auf Stirn und Wangen hatten Leid und Trauer ihre Spuren eingegraben und dazu viel Gelegenheit gehabt. Gegen Wind und Staub kniff er die Augen noch immer zusammen. Darunter hatte der Schlaf, den er seinem Körper verweigerte, sich Taschen gesucht und die Haut gedehnt.
Jetzt verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln, bei dem er selbst nicht sicher zu sein schien, ob es angebracht war angesichts der Buchvorstellung über einen nach westlicher Anschauung unnötigen, aber nicht weniger unerbittlich geführten Krieg.
Ich stieß den angehaltenen Atem aus, senkte den Blick auf meine Notizen und überlegte, mit welcher Frage ich die Aufmerksamkeit meines Idols auf mich lenken und einfangen konnte. Mir war bewusst, dass der Stift, mit dem ich auf meinen Block klopfte, in seiner Hand ein Schwert wäre.

Über Bord


Schittwetter zum Frühstück. Was für ein Scheiß, Muttern. Ich kann nicht mal das andere Ufer sehen.
Dann lass uns doch liegen bleiben. Die Welle läuft nach West, da kann uns hier nix passieren. Wir legen nach vorn und hinten den Anker raus und werden wenigstens nur von oben nass. Mein Ölzeug ist übrigens viel zu groß. Ich muss sogar die Kapuze umkrempeln.
Nein, vergiss es. Der Wind dreht über Nacht. Sie haben für morgen Sturm aus West angesagt. Wir müssen heute hier weg. Ich mach schon mal die Schoten klar.
Na gut, wie du meinst. Aber schreib bitte ins Logbuch, dass ich dagegen war. Von wegen, morgen kommt Sturm. Guck dir das Wasser dahinten doch an. Der Wind schiebt den Schaum schon quer zur Welle.
Das is mindestens ne Sieben.
Freu dich, dann geht es um so schneller nach Hause. Wenn wir die Fock und das Großsegel aufziehen, dauert es keine zwei Stunden, bis wir drüben sind. Vielleicht geht sogar der Spinnacker. Wir haben ja den
Wind von Achtern. Kann’s losgehen? Ich bin fertig. Schau mal, die neuen Bändchen an den Wanten sind prima Windanzeiger. Fast so gut, wie der Verklicker auf dem Mast.
Du bist verrückt, Vattern. Ich glaub, du vergisst die Steinwiese. Maximal Halbwind und hart dran. Du musst drum rum kreuzen. Die Bojen sind nicht umsonst ausgelegt. Quer drüber geht nicht. Das haben schon flacherer Boote ohne Kielschwert versucht und sind aufgesetzt.
Muttern. Vertraust du deinem Käpt‘n nicht?
Solange du weißt, was die Aufgabe eines Kapitäns im Notfall ist, ist alles gut. Schieb mal den Tweidel rüber. Hier steht bisschen viel Wasser am Schwertkasten. Hast du die Lenzklappe schon aufgemacht, bevor wir überhaupt in Achternfahrt sind? Mann, Vattern. Was für ein Käpt’n bist du denn?
Dafür hab ich die Stauraumklappen alle dicht gemacht. Die neben dem Ruderkasten war nämlich noch offen.
Was du nicht alles siehst, Vattern. So, gib mal Kommando. Soll ich das große Vorsegel ausrollen oder lieber die kleine Fock aufziehen? Du willst sicher mit vollem Großsegel fahren, oder willst du reffen?
Nee, latt man. Wir fahren erst mal los. Je eher wir wegkommen, desto besser.
Wie du meinst, Schatz. He, warte! Das Vorstag klemmt. Irgendwer hat da ein Bändchen dran gebastelt, das nach unten gerutscht ist. Ich will ja keinen anschauen, ne Vattern?! Und ich hab wieder die Kletterei. Mist! Und die abgebrochenen Fingernägel. Das ist das letzte Mal, dass ich dein Fockaffe bin. Nächstes Mal will ich Großschoter sein.
Ha, das will ich sehen! Du hast überhaupt nicht genug Kraft, um das Großsegel aus der Hand zu fahren.
Muss ich auch nicht. Rutsch mal ein Stück zur Seite. Guck hier. Ich klemm das Seil einfach in die Winsch und schon kann ich dir mit der freien Hand zeigen, wo es lang geht. Wo ist eigentlich die Spitzenboje? Ich kann die Boje von der Steinwiese nirgends sehen, Vattern.
Ganz ruhig, Muttern. Ich hab alles im Griff. Bei so einem böigen Wind wie heute kann man die Schoten nicht festlegen. Du musst immer bereit sein. Besonders wenn wir hart am Wind fahren und noch mehr, wenn wir so viel Fahrt drauf haben wie jetzt. Der Ruderdruck ist so groß, dass mir die Heckwelle fast ins Boot kriecht. Was meinst du, wieviel Knoten wir machen? Dreizehn, vierzehn? So viel hatten wir noch nie mit der Jolle. Achtung, Muttern, das wird ne heftige Bö! Nimm die Vorschot in die Hand und hoch mit dir, auf die Kante! Ahh, autsch, tut das weh. Ich hätte Handschuhe gebrauchen können. Lass die Fock nach, Muttern. Da muss mehr Bauch ins Segel, sieh dir die Bändchen an. Achtung, noch eine Bö! Aua, Scheiße! Was war das? Komm zurück ins Boot, Muttern, schnell.
Was war das, Vattern? Das hat richtig geknallt. Nicht, dass unser Ruder gebrochen ist!
Nee, mit dem Ruder ist alles in Ordnung. Die Pinne reagiert immer noch. Aber die Latte im zweiten Reff ist kaputt. Schau, da oben. Schnell, holen wir das Segel runter, bevor das Holz die Tasche durchstößt und unser Segel zerreißt. Das hat gerade noch gefehlt. Ich stell uns in den Wind.
Ha, was ist das? Vattern, da knirscht noch was anderes. Und wieso kann die Möwe da auf dem Wasser stehen? Oh nein, Vattern. Wir sind aufgelaufen! Wir sitzen auf der Steinwiese fest. Mal sehen, ob ich uns mit dem Paddel … Uups. Abgerutscht. Tschuldigung. Guck nicht so! Ich geh schon, hier ist es ja eindeutig flach. Nass bin ich ja auch schon überall.
Ja, genau! Und ich erfülle jetzt meine Kapitänspflicht und sende unser offizielles Notsignal wegen Mann über Bord!

Gleiswechsel

Der Wind spielt mit meinem Haar und dem offenen Mantel, während ich auf den Sechs-Uhr-Zug warte und so tue, als würde ich nicht bemerken, wie die umstehenden Männer unter dem eng anliegenden Stoff meines Kleides nach den feinen Linien von BH und Slip suchen, die sich dort abzeichnen müssten. Auch mit 47 Jahren kann ich es mir leisten, auf diese Streifen zu verzichten.
Der Zug kommt und wir steigen ein. Ich setze mich ans Fenster, mir gegenüber eine junge Frau vom Typ Nathalie Portman. Sie schiebt ihre Lederjacke von den Schultern und klappt ein Buch auf.
Ich hoffe, sie bekommt nicht mit, wie ich sie anstarre. Obwohl ich mit Pinsel und Farbe nicht umgehen kann, drängt es mich plötzlich, sie zu zeichnen. Mit einem harten Stift ihre Konturen nachzuziehen und mit Fingern und Spucke zu verwischen, bis mir der Mund trocken wird. Ihre schlanken Beine, die runden Hüften und die schmale Taille einer Tänzerin.
Fasziniert beobachte ich, wie die sahnige Haut über ihren Brüsten sich beim Atmen hebt und senkt. Die Nervenenden in meinen Fingerkuppen vibrieren vor Spannung und auf einmal schmecke ich den Hauch von Zimt und Zitrone auf meiner Zunge. Die Duftspur führt zu ihr.
Als Künstlerin dürfte ich herausfinden, wonach ihre Haut sich anfühlt: nach glattem Marmor oder warmer Vanillecreme?
Für einen Moment schließe ich die Augen und atme tief ein, horche auf die Schienenschläge unter mir, deren stummer Rhythmus sich auf mich überträgt.

Ein leises Kichern lässt mich neugierig zu meinem Gegenüber schauen. Ihre Augen, in denen das Wesen einer Nixe lauert, erforschen mich. Mal grün, mal blau schimmernd wandert ihr Blick in meinem offenen Mantel abwärts.
Gebannt verfolge ich, wie sie dabei eine Strähne ihres Haars nach vorne zieht und über ihre Lippen streichen lässt. Mein Mund prickelt und öffnet sich etwas, als sie den kitzligen Reiz von ihren Lippen leckt.
Von einer FRAU so angesehen zu werden ist neu für mich. Ich fürchte und genieße ihren Blick. Spüre, wie sich das Blut in meinen Brustwarzen sammelt und sie gegen den weichen Stoff des Kleides drückt. Der Platz, auf dem ich sitze, scheint sich aufzuheizen.
Nathalie rutscht ein Stück vor, bis unsere Knie sich berühren. Im Reflex zuckt mein Bein zur Seite, was ihr ein Lächeln entlockt. Sie neigt ihren Oberkörper zu mir und legt ihre Hand leicht auf meinen Schenkel.
Heiß auf kalt. Der Temperaturunterschied unserer Hautflächen entfacht einen Sturm in meinen Adern. Das wilde Rauschen weckt den Wunsch, die Kleidung auf meinem Körper gegen ihre Hände zu tauschen.
Stattdessen ziehe ich meine Arme um mich und starre auf die flachen Kuhlen an ihrem Hals, in denen ich ihren Pulsschlag zu sehen glaube. Mein Herz pocht so stark, dass ich es festhalten muss.
„Entschuldigung“, sagt sie im Aufstehen, nimmt Buch und Jacke.
Noch nicht meine Station.
„Na, dann …“ Sie lässt den Satz offen. Im Vorbeigehen streift sie meine Schulter und Zimtduft dringt mir in die Nase. Ich schlucke, um meine Zunge vom Gaumen zu lösen.

Wie von selbst sucht meine Hand nach der Stelle auf dem Bein, die noch warm ist von ihrer Berührung. Es hat sich verdammt gut angefühlt. Zufall? Plötzlich springe ich auf und folge ihr.

Nach Gestern kommt Morgen

„Aufwachen, Frau Rösler. Besuch für Sie!“
Ach Gott, Besuch! Wer wohl kommt?
„Haben Sie ein Glück, gestern Ihre Tochter, heute Ihre Enkelin.“
Moment, war gestern jemand hier? Was für ein Tag ist heut? Was war gestern?
Besuch ist nicht immer nett. Manche Leute haben ein seltsames Benehmen am Leib. Oh – ein freundliches Lächeln. Hat sie gesagt, wer sie ist? Hübsche Person. So eine schlanke Figur. Ob sie je Kinder geboren hat? Ich habe! Habe ich? Ich habe doch Kinder, oder? Wo sind sie jetzt?
Ahh, das Lied kenn‘ ich. Die Frau spielt richtig gut. Wie heißt noch das Dingens? Ach komm schon, Hirn, das gibt‘s doch nicht! Ich hab’s gleich, Gitarre, na endlich! Genau so eine. Hat ich auch mal. Die hab ich überall mitgenommen. Schöne Zeit war das. Was wir alles erlebt haben!
Ostsee. Da sind wir hingefahren. Mein Bär und ich. Mit dem Rad damals. Jeden Kilometer haben wir in den Beinen gespürt. Da gab‘s, da war so eine flache Bucht, die reichte weit rum. Den ganzen Tag sind wir dortgeblieben.
Oh, das Gesicht! Wie das Gesicht gebrannt hat! Erst Wind, dann Sonne.
Wir haben Kartoffelsalat und Kuchen dabeigehabt, immer selbst gemacht. Immer, ja. So viel Aufwand und dann … Was wollt‘ ich? Verflixt! Ach, verrückt, es hat alles nach Salz geschmeckt. Wir haben die Finger saubergelutscht, und wenn man den Schweiß von den Lippen wischt, weißt, wie das juckt?
Ja, so war‘s. Faul rumliegen gab‘s nämlich nicht. Ball über‘s Netz und dieses flache Ding. Das fliegt hin und her wie – ach, egal. Was haben wir noch ge-, gespielt?
Manchmal, manchmal sind wir nach dem Baden in das kleine Zelt gekrochen. Mein Bär und ich. Zum Aufwärmen. Reißverschluss zu. Mehr sag ich nicht!
Ach, Bärchi. Wenn man einmal so liebt. Nie wieder. Nie wieder hat jemand solche Hände gehabt.
Abends, haben wir Muscheln gesammelt, die kleinen weißen. Ich hab später immer welche in den Taschen gefunden, irgendwo. Irgendwo hab ich bestimmt noch eine. Die haben hübsch ausgesehen auf unserer Kleckerburg. Ein wahres Kunstwerk, hmmh. Tropfnass muss der Schlamm sein. Mit trocknem Sand geht’s nicht. Der rieselt weg wie nix. Mir fehlt das Kitzeln unter den Füßen. Barfuß tanzen am Strand.
Und jetzt? Nebel und Staub! Ist das alles, was übrigbleibt? Keine Liebe mehr? Und was kommt morgen?
Dieses Lächeln. Was hat die Frau gesagt, wer sie ist? Sie hat so etwas Warmes in der Stimme, wenn sie singt und spricht. Wie schön jung ihre Hände aussehen! Hmm, sie riecht wie …, sie erinnert mich an, äh, an lila Blumen. Veilchen, vielleicht?
Hach, Mensch, ich kann mir einfach nix merken. Sie ist so freundlich zu mir. Sie kommt später bestimmt irgendwann in den Himmel. Ob, ob wir uns dort wiedersehen? Ob wir uns dann erkennen?
Nein, es macht keinen Spaß alt zu sein. Es bleibt so wenig bis zum Schluss. Kein Laufen mehr. Kein Tanzen am Strand. Nur noch Musik. Und dann der Traum.
Bär? Bär, bist du das? Ich freu mich auf dich.