experimentelles Schreiben – Schreibexperiment 3

Relativ
Die Versammlung war zu Ende und die Aufgaben verteilt. Thema war schlicht und ergreifend die Zukunft, beziehungsweise ihr aller Überleben gewesen, denn sie hatten erfahren, dass zum nächsten Werktag der Schädlingsbekämpfer bestellt war.
Die Population der längsgestreiften Wespen hatte im langwierigen Prozess um Anerkennung ihre Andersartigkeit aufgegeben und sich mit quergestreiften Westen bekleidet und angepasst. Doch im gleichen Maße, wie sie ihre Toleranzfähigkeit demonstrierten, verloren sie die Sonderstellung eines schutzwürdigen indigenen Naturvolkes. Unter diesen vorher nicht bekannten, nun veränderten Voraussetzungen würden sie außerdem ihr Heim verlieren. Ihr Nest war bei der Schließung und dem begonnenen Rückbau des Restaurants entdeckt worden, das jahrelang als naheliegende exquisite Futterquelle sowohl für das Westenwespenvolk sowie für stinknormale Flügelträger und Gäste des angegliederten Hotels den Tisch gedeckt hatte. Nun war ein Umzug bitternötig geworden und Kundschafter sollten neue Wohnmöglichkeiten und die bestrealisierbare Variante für die Umsiedelung des behäbigen Volksstammes erschließen. Selbstverständlich war die Angelegenheit als hochgeheim eingestuft und so wusste Niemand außerhalb der summenden Gemeinschaft von der geplanten Aktion.
Trotz seiner Vorsicht wurde ein Flugpionier dennoch bei seiner Arbeit entdeckt, zum Glück aber nicht enttarnt. Eine Frau war im Zug, der aus der Stadt hinaus ins blühende Land fuhr, auf das schwarzgelb gestreifte Fluginsekt aufmerksam geworden. In diesen Sekunden waren ihre Gedanken aufgrund eines merkwürdig bedrohlichen Anrufs zuvor auf sehr vielfältige Weise mit der Gefahr an sich, für sich und jede weitere beteiligte Person beschäftigt gewesen, was ihre erhöhte Sensibilität für die Absonderlichkeit einer Wespe im 2.Klasse-Abteil des Regionalexpress‘ erklären mochte.
Die Wespe war ihrem Auftrag gemäß zuverlässig am letzten innerstädtischen Bahnhof in den Zug eingeflogen. Dort hielt sie sich an die unter Insekten geltenden Abstandsregeln und umkreiste gekonnt die auf einen Abteilsitzplatz wartenden und deshalb im Ein- und Ausstiegsbereich stehen gebliebenen Fahrgäste. Außer unterschiedlichen Höhenverhältnissen der Decke fand sich nichts Interessantes an dieser Höhle. Mühelos durchbrach sie die für Menschen anscheinend äußerst hinderliche Barriere zum Abteil, wobei sie geschickt den schmalen Spalt zwischen den Glaswänden zu nutzen wusste. Der Zug setzte sich in Bewegung, als die Wespe die Beschaffenheit der Zwischendecke in Augenschein nahm. In diesem Moment geschahen zwei Dinge. Erstens wurde die Wespe von den übrigen Passagieren wahrgenommen. Zweitens legte der Zug an Geschwindigkeit zu und erhöhte somit insgesamt die Geschwindigkeit, mit der die Flügelarbeiterin auf ihrem Kundschafterflug unterwegs war.
Während einige der Fahrgäste sich respektvoll duckten, um der Verwirrtheit des Insekts Raum zu geben, beobachtete die alarmierte Frau mit Stift und Notizheft besorgt die Entwicklung des Geschehens. Würde die Wespe den auf sie einwirkenden Kräften der Beschleunigung gewachsen sein? Als sich neben den Fenstern ein anderer Zug vorbeischob, war klar: dies war eindeutig ein Fall für Albert Einsteins Relativitätstheorie. Das kannte man ja. Flog die Wespe in dieselbe Richtung, in die der Zug fuhr, würde ihr das leichter fallen. Bewegte sie sich in die entgegengesetzte Richtung, hätte sie den Widerstand der fremden Bewegung zu überwinden. Oder nein, es war genau umgekehrt. Bei Flug in Fahrtrichtung des Zuges wirkten die Kräfte doppelt auf das Insekt wegen der kumulierten Vorwärtsbewegung, während der Rückweg im Flug durch die Gegenrichtung des Zuges bereits erledigt war, wenn sie sich in der Abteilluft nur auf derselben Stelle hielt. Irgendetwas war falsch an der Theorie. Aber was? Stimmte die Zuordnung der festen und bewegten Objekte zueinander nicht oder die Relation drinnen zu draußen? Wie behält man dabei die Orientierung? Die Wespe jedenfalls schien zu torkeln, purzelte in der Luft vor und zurück. Bestimmt war ihr schon übel, weshalb sie sich kraftlos an den grauen Kunststoffgittern unterhalb der Decke abfing. Das Insekt beeindruckte die Neugierige mit Cleverness, offenbar leckte es die Schweißspuren an der Gepäckablage über den Sitzen ab. Dass Salz auch unter Wespen als altbewährtes Hilfsmittel gegen Schwindel und Übelkeit galt, überraschte die stille Beobachterin. Schlussendlich hatte sie die ganze Sache doch falsch betrachtet, weil kein luftleerer Raum bestand wie im kosmischen Vakuum. Vielleicht fühlte es sich für das Insekt danach an? Da, die Wespe untersuchte offenbar kurz vorm Ersticken die Lochstanzungen in der Decke auf Luftzufuhr. Ach herrje, die arme Wespe. Würde das Lungenvolumen des Flügelwesens diese Überlastung ertragen? Wie unvorbereitet das kleine Ding in diese schrecklich kräftezehrende Situation geraten war!
Den Ängsten der Fahrgäste im Allgemeinen und den Bedenken der Frau mit dem inzwischen steifen Genick im Besonderen sehr fern und davon unbeeindruckt, schloss die Wespe ihre empirischen Untersuchungen zeitgerecht ab, las schnell die Streckenbeschreibung auf dem Plakat, bevor sie am nächsten Halt in Wannsee auf den Bahnsteig flog und mit relativ interessanten Erkenntnissen den Rückweg zum Noch-Nest antrat.