experimentelles Schreiben – Schreibexperiment 4

Maskenball
Noch zwei Tage.
Elena atmete aus, sie lehnte mit der Stirn am Fenster, die Scheibe beschlug, aber hindurchschauen konnte man schon länger nicht mehr. Wann hatte sie aufgehört, die Fenster zu putzen, wann hatte sie aufgehört, sich für die Aussicht zu interessieren? In zwei Tagen spätestens sollte der Wald hinter dem Haus besser wieder zu sehen sein, zumindest die Farbe. Grün beruhigt das Auge, mit viel Ausdauer auch die Seele. Allerdings würde ihre Mutter so viel Hinausstarren verdächtig finden und das Geheimnis wäre in Gefahr, aufgedeckt und zum Problem zu werden. Dann nämlich würde Elena der Vortrag über Schandmasken nicht erspart bleiben, den ihre Mutter sonst den Besuchern im Germanischen Nationalmuseum über die Ehrenstrafe von Ehebrechern hielt und den Elena schon auswendig kannte. Ganz zu schweigen von der Wiederholung des anschließenden Vortrags, was sie für eine nichtsnutzigen Tochter wäre.
Eine Schandmaske hatte Elena nicht getragen, als sie und ihr verheirateter Liebhaber die Lieblingsszene aus Fifty Shades of Grey nachspielten. Schwarze Spitze mit Glitzer und Seidenbändern zum Binden. Über den Augen, über der Brust und die Bänder auf den Hüften hatte er zuerst geöffnet.
Elena schob den Stuhl vor das Küchenfenster. Für Ehebetrug wurde man im Mittelalter an den Pranger gestellt oder hingerichtet. Durch Hängen zum Beispiel. Die Schandmaske war lediglich zur Bestrafung von minder schwerem Fehlverhalten gedacht.
Elena hob den Eimer mit dem Wasser auf den Stuhl und lachte kurz auf. Die Masken wären in der Gestaltung der Art des Vergehens sehr ähnlich, hieß es. Vernachlässigte Ordnung und Sauberkeit, wie würde die Maske dafür wohl aussehen. Mit Federn und Borsten gespickt, weil man damit früher Staub wischte und fegte? Das Ergebnis käme der venezianischen Karnevalsmaske von neulich sehr nahe.
Es klingelte an der Tür. Erst der Schreck, dann die Panik. Zu früh! Zwei Tage zu früh! So war das nicht verabredet. Es half ja nichts. Elena zog die Gummihandschuhe aus und öffnete. Und erfuhr sogleich Erleichterung. Nicht ihre Mutter, sondern Sophie, ihre Freundin, ihre ab heute allerbeste Freundin stand in Kopftuch und Schürze mit Müllbeuteln und Schrubber bereit, ihr zu helfen.
„Sophie! Dich schickt der Himmel! Komm rein, wenn du dich traust.“
„Hey, Ehrensache. Der Notfall war selbst am Telefon nicht zu überhören. So viel schlimmer als bei meinem letzten Besuch wird es schon nicht sein. Herrgott, Elli! Was ist passiert? Wie kann man im schicken Wannsee in so einer Dreckbude wohnen?“
„Ganz leicht, wenn das Leben einen ständig überholt.“
„Mensch, Elli, du hast dich im Stolpern überholt. Erst Aufräumen, danach Saubermachen! Ich fang mit dem Fenster in der Küche an, an deiner Wäsche mag ich nicht rumfalten, das mach mal schön selbst.“ Sophie verschwand und ließ Elena im Wäschechaos zurück. Wer faltet denn heute noch Socken und Unterhosen?
Die T-Shirts und, noch schlimmer, die Blusen sahen selbst übereinander gestapelt geknüllt aus. „Arrgh“, knurrte Elena und nahm sich die Wäschestücke erneut vor, mit mehr Konzentration und zitternden Fingern. Bis sie den Kaffeefleck auf der hellblauen Bluse bemerkte. „Ach du liebe Zeit, der ganze Haufen muss erst gewaschen werden.“ Sie raffte alles zusammen und trug es ins Bad, stellte das Universalwaschprogramm ein und schaute nach, wie lange die Waschmaschine damit beschäftigt sein würde. Elena nahm sich die Reinigung des Bades in derselben Zeit vor.
Sie fing damit an, die Gratisproben am Waschbecken nach Behalten und Wegwerfen zu sortieren. Kosmetika, die richtig guten Sachen, waren viel zu teuer, um sie zu kaufen. Gegen Ausprobieren sprach jedoch nichts. Elena trug die dicke Creme auf, die sich bei genauerem Lesen der Ameisenschrift als Erfrischungsmaske entpuppte. Auch gut. Und witzig. Jetzt konnte sie in Sachen Augenmaske mit jedem Comic Helden mithalten. Was roch denn hier so merkwürdig? Elena linste in Richtung Klo und schmeckte Ekel auf der Zunge. Sie schaute nicht erst nach, sondern kippte den Inhalt des WC-Reinigers komplett ins WC-Becken und ließ den Deckel sofort wieder zuklappen. Sie hörte es blubbern und zischen und brodeln darin. Vorsichtig hob sie den Deckel wieder an. Ätzende Dämpfe stiegen ihr entgegen. „Puh, davon kann einem ja schwindelig werden!“ Schnell beugte sich Elena zum Fenster und öffnete es weit. Eine Wespe folgte der Einladung, flog eine Runde durchs Bad und summte zurück an die frische Luft. Elena hätte schwören können, die Wespe wäre maskiert gewesen. Giftige Dämpfe können sich entwickeln, stand als Warnung auf der Reinigerverpackung. Vielleicht sollten sie die Gasmaske gleich mitliefern. Elena wandte sie sich den restlichen Proben am Waschbeckenrand zu, entschied, sie alle zu behalten. Danach wischte sie den Spiegel, die Ablage, den Boden der Dusche, die Oberflächen der Fliesenkante, bis ihre Haut zu spannen begann. Erschrocken betrachtete sie sich im Spiegel. Zu lange draufgelassen, zu trocken geworden, hatte die Erfrischung sich in eine Totenmaske verwandelt. Nun aber runter damit.
Sophie klopfte und öffnete die Badtür. „Alles in Ordnung bei dir? Du hast das Telefonklingeln überhört. Bis auf dieses Fenster sind alle geputzt und ich sehe, du bist fast fertig. Gut so, deine Mutter hat nämlich gerade angerufen, sie ist gleich da. Sie möchte vom Bahnhof abgeholt werden in 15 Minuten.“
Gestresst, überhaupt nicht erfrischt und kaum mit Grün für die Seele aufgeladen stand Elena am Bahnsteig, als der Zug einfuhr. Ihre Mutter war schlecht gelaunt, trotz des groß geblümten Stücks Stoff über ihrem Gesicht gut zu erkennen. Sie zog den Koffer zu Elena, die sich nicht gerührt hatte, stemmte die Hände in die Seiten und sagte: „Das war vielleicht eine Fahrt! Überall Wespen im Abteil! Und wieso, in drei Teufels Namen, trägst du keinen Mund-Nasen-Schutz?“ Elenas Lust auf Mutterbesuch bröckelte wie eine zu lang getrocknete Erfrischung von ihrem Gesicht.