Wieder kein Jahresrückblick

Vielleicht ist es allen ungeduldigen Menschen eigen, ich bin jedenfalls kein Beispiel für Rückwärtsgewandtheit. Von daher liegt es mir nicht, das Jahr 2022 im Schnelldurchlauf zu betrachten nach dem Motto, ich hätte den Film verschlafen und ziehe mir jetzt die Kurzfassung rein, um den Schulaufsatz abzuliefern.

Mein Blick geht am liebsten nach vorn, ungeduldig, was kommt, hoffend, dass viel Schönes dabei sein wird. Immer ein Schritt vor, durchaus im Bewusstsein des Mitgestaltungsrechtes mittels guter Vorsätze. Sport rangiert in den Listen gern weit oben. Auch bei mir bedeutet es nicht unbedingt, sofortige Umsetzung. Der Silvesterlauf um den Teufelsberg und/oder den Teufelssee in Berlin zum Beispiel hat mich gereizt. Doch obwohl Westberlin von Potsdam nicht weit entfernt, das Wetter ungewöhnlich mild ist und ich nichts anderes vorhabe, als diesen Text zu schreiben, bewege ich mich nicht durch die laue Natur Berlins, sondern sitze wie üblich vor dem Laptop an meinem Küchentisch, der sportliche Hüftschwung kommt mit Lambada aus dem Radio.

Dennoch hat das kommende Jahr bessere Aussicht, ein sportliches zu werden, als das zurückliegende. Im Dezember hat nämlich neues Equipment Einzug in unsere Wohnung gehalten. Nachdem nun auch die notwendige Schonmatte für den Fußboden eingetroffen ist, steht der Nutzung des Rudergerätes nichts mehr im Weg. Passenderweise hat es im Arbeitszimmer Platz, eine ständige Mahnung beim Hinsetzen und Aufstehen im Rücken meines Bürostuhls.

Dabei fällt mir auf, dass wir ab jetzt wie für Zirkeltraining ausgerüstet sind. Im Zimmer gegenüber, dass von der Jugend bewohnt wird, sind Übungen an Sprossenwand und Trampolin möglich. Sofern die hölzernen Holme von den Terrabändern befreit und die schwingende Fläche nicht mit gestapelter Wäsche und Ausbildungsordnern belegt ist. Unter der Bücherbank im Wohnzimmer hockt die Vibrationsplatte, zugedeckt mit Yogamatte und Faszienrolle. Als Stretchingbereich bieten sich nach wie vor die oberen Fenster der Wohnung an, die besonders im Bad im erhöhtem Schwierigkeitsgrad nur mithilfe Turnerei auf dem Wannenrand erreichbar sind.

Im Moment komme ich da nicht an, muss mich wohl beim Tragen und Umherschieben der Bücherkisten gezerrt haben. Die werden in meiner Vorstellung demnächst leerer, wenn die avisierten Lesungen die Nachfrage nach meinem Psychothriller Gelogenes Leben anheizen, den ich nach etlichen Jahren des Brütens endlich in die Hitze des letzten Sommers entlassen habe. Insgeheim wünsche ich mir eine Verfilmung des Stoffes, weil das Lesen dem gehetzten Publikum zu viel Zeit abverlangt. Bis es so weit ist, werde ich weiter kleine Filmchen von Lesungen und Auftritten in meinem YouTube-Kanal Literatur-von-Ina-Wulf hochladen.

Bananarama singt vom Cruel Summer, während sich das Tastaturtippen deutlicher zwischen meinen Schulterblättern abzeichnet als auf dem Bildschirm. Zeit für das Rudergerät.

Sport frei 2023!

Die Welt hat einen Engel mehr – meine Omi.

Mit 98 1/2 Jahren hat sie Flügel verliehen bekommen. Natürlich ging sie an Weihnachten!
Ich bin dankbar und doch zerreißt mich ihr Fortgang. Wir sind eben Menschen!

Am 14.12.22, als ich sie das letzte Mal besuchte, war sie längst nicht mehr da. Jahre zuvor haben Frau Alzheimer und Herr Demenz die Gedanken meiner Omi mit Geschwätz betäubt und die Wirbelbrüche der Familie Osteoporose beraubten sie ihrer Beweglichkeit. Es tat unglaublich weh, sie so zu sehen und nicht helfen zu können.

Im Anschluss schrieb ich eine Kurzgeschichte aus Erinnerungen an schöne Zeiten, mit meiner eigenen Hilflosigkeit und guten Wünschen für sie und unbelehrbarer Hoffnung auf Besserung. Seit fünf Tagen ist der Text fertig. Es hätte der Beitrag für den nächsten Auftritt sein sollen. Aber hier ist sie, die Geschichte. Für dich, meine liebste Omi.

Irgendwann vielleicht
„Noch mal“, ruft das kleine Mädchen ins Dunkel. „Noch mal über das Seil!“
„Nein, das reicht. Deine Nabelschnur soll nicht verheddern. Außerdem muss ich los.“
„Kommst du wieder?“
„Irgendwann vielleicht.“
„Erkenne ich dich dann?“
„Kann schon sein. Bis dann.“

Die Frühlingsluft lässt erste Knospen vor dem Krankenhaus sprießen. Ungeduldig liegt das Mädchen im Bett. Nach dem schweren Ski-Unfall hofft sie, bald ohne Apparate atmen zu können.
Unerwartet bekommt sie Besuch.
„Hallo, wer bist du denn? Du hast dich bestimmt im Zimmer geirrt.“
„Ja, wahrscheinlich. Vielleicht auch nicht. Mein Name ist Totti. Wie geht es dir?“ Dem Jungen ist der Mantel viel zu lang. „Irgendwie habe ich den Anschluss verloren. Das passiert mir dauernd.“
„Kann ich dich aufmuntern? Ich weiß nicht mal, welcher Tag heute ist.“
„Ich auch nicht. Offensichtlich nicht unserer.“
Sie lachen beide.
„Das tat gut. Mir geht es schon viel besser. Danke für deinen Besuch, Totti. Vielleicht sieht man sich wieder.“
„Ja, irgendwann vielleicht.“

London im Sommer. Lauwarme Wolken über der Stadt, Hochbetrieb auf der Millenniumbrücke. Der Ruhepunkt mittendrin: ein Mädchen, das den schwarzen Wellentanz unter sich beobachtet.
„Was siehst du?“, fragt ein junger Mann in elegantem Mantel.
„Nichts“, sagt sie. „Ich kann überhaupt nichts sehen, und ich will auch nicht.“ Sie dreht sich zu ihm, er bemerkt ihre verheulten Augen.
„Liebeskummer?“ Sie nickt.
„Wenn du willst, bleibe ich bei dir, bis du genug siehst, um weitergehen zu können.“
Sie nickt und schaut wieder aufs Wasser. Nach einer Weile blickt sie ihn an. „Wer bist du?“
„Mein Name ist Todd.“
„Ich hätte heute auf einer Hochzeit tanzen sollen. Magst du mit mir tanzen?“
„Tut mir leid, ich kann das nicht. Sonst gerne. Außerdem muss ich los, ich bin spät dran.“
„Sieht man sich wieder?“
„Irgendwann vielleicht.“

Wind treibt feuchtes Laub gegen die Grabsteine. Das reife Mädchen wendet sich von dem bepflanzten Hügel ab. Ein Mann im langen Mantel kreuzt ihren Weg.
„Guten Tag“, sagt sie. „Ich kenne Sie, Sie standen neben dem Baum dort drüben.“
„Ich wusste nicht, dass Sie mich bemerkt haben.“
„Es kommen nicht viele Leute her. Man sagt, auf dem Friedhof sucht der Tod sein nächstes Opfer.“
„Aber Sie glauben nicht daran?“
„Nein. Ich denke, im Pflegeheim hat er mehr Auswahl. Sie erinnern mich an Jemanden.“
„So, an wen denn? Jemand Nettes, hoffe ich.“
„Er hieß Todd, und ja, in seiner Gegenwart war ich nicht so traurig. Sie sehen aus wie er, nur älter. Schade, wir haben uns nie richtig kennengelernt. Danke, dass Sie mich an ihn erinnern.“
„Gern geschehen. Ich muss los.“
„Kommen Sie wieder her, irgendwann?“

Blasses Winterlicht fällt durch das Fenster. Das alte Mädchen liegt kraftlos im Bett. Jeder Tag streicht grau über sie hinweg. Plötzlich bemerkt sie, wie eine hohe Gestalt das Zimmer betritt.
„Wer bist du?“, fragt sie. „Du kommst mir bekannt vor.“
„Guten Tag, meine Liebe. Ich bin Totti, und Todd bin ich auch.“
„Verstehe, Gevatter. Du bist alt geworden. Wo warst Du so lange?“
„Beschäftigt, es gab viel zu tun.“
„Damals, auf der Brücke, hätte ich so gern mit dir getanzt. Heute kann ich es leider nicht mehr.“
„Es wird gehen, wenn ich dich in den Arm nehme.“
„Irgendwann vielleicht?“
„Was spricht gegen jetzt?“

Psychothriller: Gelogenes Leben -Die Wahrheit entsteht im Kopf

Beispielcover

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EBooks über https://www.amazon.com/author/ian.wolf und über Tolino-Vertragspartner

Taschenbücher als Softcover bei Tredition
728 x 90

Entscheide selbst, wie du lesen willst!
In der Beschreibung ist zu jedem der fünf Bücher hinterlegt, was die Teile voneinander unterscheidet.

Für dich ist nützlich zu wissen, dass es zwei Einzelausgaben gibt und drei Gesamtmischungen.

Der Fokus beim Lesen ist jedes Mal anders ausgerichtet. Zwar ist die Geschichte immer dieselbe, aber in deinem Kopf entsteht sie durch die verschiedenen Kombinationen mit jedem Lesen anders.

Die Serie Gelogenes Leben

… ist eine Einladung an die Leserinnen und Leser, selbst zu wählen, aus wessen Perspektive, Täter oder Opfer, und in welchem Tempo sie die Handlung des Psychothrillers erfahren wollen. Die Geschichte zweier gegenpoliger Protagonisten, die nach fünfzehn Jahren und dreizehn Tagen wieder aufeinander treffen.

In Gelogenes Leben – Meine Tage mit ihr.

… ist der Ich-Erzähler der Psychopath Dr. Edgar Sandmann. Der enthaltene Prolog ist der rasante Einstieg in den Thriller, dessen Dynamik durch die Lebens- und Gedankenwelt des Psychopathen bestimmt wird. Wer es schnell mag, liest diese Buchvariante. Die Ausgabe ist die kürzeste Version der Geschichte mit einem Ende, das gegenüber den anderen Veröffentlichungen die detailliertere Auflösung gibt.

Gelogenes Leben – Meine Nächte mit ihm.

… hat als Ich-Erzählerin die junge Mordermittlerin Mia. Diese Ausgabe verzichtet auf den Prolog und ermöglicht den Leserinnen und Lesern einen moderaten Einstieg in den Psychothriller. Die Spannung steigt konsequent bis zum finalen Aufeinandertreffen. Hoch emotional bis zum Ende.

Gelogenes Leben – Meine Tage mit ihr. Meine Nächte mit ihm. Er zuerst.

… enthält bis auf das Finale aus Nur er beide identischen, oben beschriebenen Buchteile hintereinander. Der Edgar-Teil endet in der Stunde, in der die Protagonisten aufeinandertreffen, und wird nach dem Mia-Teil in einem gemeinsamen Finale weitergeführt. Die vollständige Geschichte für Schnellleser, die nach dem Lesen des ersten Teils die Puzzlestücke aus Teil 2 zu einem Bild fügen möchten.

Gelogenes Leben – Meine Nächte mit ihm. Meine Tage mit ihr. Sie zuerst.

… entspricht der vorigen Version in umgekehrter Reihung mit gemeinsamem Finale. Die vollständige Geschichte für Schnellleser, bei dem die Puzzlestücke das Bild in anderer Reihenfolge zusammenfügen.

Gelogenes Leben – Meine Tage mit ihr. Meine Nächte mit ihm. Gesamt.

… ist die taggleiche Kapitelmischung beider zuvor getrennter Ausgaben. In dieser Zusammenstellung entsteht ein neuer Gesamteindruck beim Lesen, die unterschiedlichen Erzählgeschwindigkeiten mischen sich und sorgen für den Wechsel von Spannung und Emotionalität. Die ganze Geschichte in voller Wucht.

Kleine Werkschau

Die Kleine Werkschau ist fertig.
Eine Art Visitenkarte als Lyrikerin, als Autorin, als Fotografin.

51 Seiten Text, abwechselnd Lyrik und Kurzgeschichten, aufgelockert und unterstützt mit Fotografien.
Bei Interesse kann gern unter der Kontaktadresse bestellt werden.

Von wegen alt

Irgendwann ist es (shit happens) einfach das Zuvielste, und dann geht es nicht mehr wie vorher. Das Leben im eigenen Körper, wie es bis dahin funktionierte, muss neu zurechtgerückt werden.
Dann sitzt du beim Orthopäden und diktierst deine Anamnese, all die Knochenbrüche, die dich langsam werden lassen, und beim Aufzählen merkst du, dass es schon ein paar Jährchen gebraucht hat, die Blessuren einzusammeln, und ganz plötzlich begreifst du, warum du langsam geworden bist. Du wirst alt!
Aber nein, denkst du, du willst nicht zum alten Eisen gehören. Jetzt doch noch nicht. Bis eben, bis kurz vorher, bis vor dem letzten Knocheneinspruch, lief alles noch wunderbar. Da geht noch was, bitte!
Allerdings! Es gibt Hoffnung, weil es Ärzte und Therapeuten gibt, die die Hoffnung nicht aufgeben. Und es gibt Physiotherapeuten, die zugleich Chiropraktiker sind. Die kriegen das wieder hin. Es dauert ein paar Wochen, aber dann ist sie da, die erhoffte Besserung.
Dein altes Leben winkt um die Ecke, im Sinne von „früheres“ Leben, nicht im Sinne von „alt“. Es schmeckt wieder nach lockerer Bewegung an frischer Luft, es fühlt sich nach Runderneuerung an. Angefangen bei den Füßen, Beckenaufrichtung, Wirbelstellungskorrektur von LWS über BWS bis HWS, Kenner wissen, was gemeint ist. Plötzlich wird sogar die Atmung freier.
Dass du dich innerlich wieder jung fühlst, merkst du spätestens, wenn du dir bei der Korrektur der Kiefergelenke Sorgen um die Faltenbildung an Hals und Gesicht machst. Spätestens dann bist du der Heilung ziemlich nahe. Nur über deine Prioritäten solltest du dir neue Gedanken machen.
In dieser Verfassung stehst du sogar nach einem neuen unnötigen (shit happens) Fahrradsturz wieder auf und fährst weiter! Vielen Dank! https://praxis-frank-erdmann.de/theorie/

Schwarze Katze oder Mittwoch, der 13.

Mein Vater brachte uns das Kartenspiel „Schwarze Katze“ bei. Kurz nach meinem zwölften Geburtstag. Kurz nachdem er bei meiner Mutter und mir eingezogen war.

Die Einzelheiten oder Regeln des Spiels müssen gar nicht erklärt werden, um bloßzulegen, weshalb es nicht mein Lieblingsspiel wurde: Man kann keine Pluspunkte sammeln. Im gesamten Kartenspiel, vom ersten bis zum gnadenvollen letzten Stich geht es darum, so wenig wie möglich Minuspunkte oder anders ausgedrückt, keine herzverseuchten Stiche, auf der eigenen Tischseite zu stapeln. Die hübscheste und zugleich schlimmste Karte im Blatt, die Pikdame, war von nun an mit schlechtem Ruf unterwegs. Mein Harmonieempfinden wehrte sich gegen die Kartenrunden, denn wie oft wir uns in bester Absicht, Familienzeit miteinander zu verbringen, zusammensetzten, jedes Mal gingen wir im Streit auseinander. Wie kann man auch annehmen, gutes Karma zu verbreiten, indem man den Mitspielern alles Schlechte in die Schuhe schiebt, ohne die Möglichkeit für jene, innerhalb der Familienzeit mit Pluspunkten aus dem Gefühlskeller zu klettern? Also beschloss ich zu verlieren, mit Absicht, aber nicht für immer.

Über dreißig Jahre später starte ich an einem Januarmorgen den Weg zur Arbeit. Wie immer ein bisschen spät, weil ich mir nicht merken kann, dass die Baustelle kurz vor dem Bahnhof die direkte Einflugschneise ewig noch versperrt. Vielleicht schaffe ich es trotzdem. Es ist Mittwoch, der 13. Ich haste die Treppen des Mehrfamilienhauses hinunter und falle beinahe über das schwarze Tier. Die Katze liegt im Weg. Nicht das erste Mal. Sie liegt überall rum, als wüsste sie nicht, wohin sie gehört. Ungeliebt oder aussortiert? Kurz vor der Haustür steht ein Allzweckkorb, in den Bücher, angeschlagene Tassen und Gläser und Werbezeitschriften ohne Umweg über den Briefkasten in den Abfall wandern. Direkt über der illegalen Hausmülldeponie prangt ein Schreiben der Hausverwaltung, das Aussortiertreiben zu unterlassen. In diesem Korb lag die Katze noch nie.

Mit dem ersten Schritt vor die Tür verlängert sich die benötigte Zeit zum Bahnhof blitzeismäßig. Es ist sauglatt! Glücklich am Büro angekommen, stelle ich fest, in der Eile die Einlasskarte vergessen zu haben. Überall nur geliehenen Zutritt zu haben, macht ziemlich unbeweglich. Noch dazu ist mir die Schlaufe meiner vorgeschriebenen Mund-Nasen-Bedeckung gerissen, was mir den Eintritt beim Bäcker erschwert. Nicht so schlimm, ich kann sowieso nichts kaufen, weil die Geldbörse auch zuhause geblieben ist, in der anderen Jacke.

Wieder zurück im häuslichen Treppenhaus, liegt die Katze auf der Fußmatte, quer drüber, und weiß nichts von ihrer Symbolkraft. Mir ist zwar nicht klar, wer die Karten verteilt hat, aber es sieht so aus, als blieben mir die Minuspunkte nicht erspart. Ich kann das Tier nicht in die Wohnung lassen, Katzenhaarallergie. Mit weitem Schwung gelange ich über das Tier hinweg in den rettenden Flur und streiche den Tag auf dem Kalender durch mit der Erkenntnis, der 13. muss nicht immer ein Freitag sein, und diese Katze ist wahrscheinlich ein Kater.

Wo kommt das her?

Das letzte Stück Weg zu meinem Bürojob könnte ich innerhalb fünf Minuten mit nur drei U-Bahnstationen zurücklegen. Doch nicht erst seit Corona laufe ich lieber zu Fuß. Berlins Mitte zeigt mir früh morgens, um kurz vor sechs, ein verschlafenes Gesicht. Die Stille auf dem Gendarmenmarkt hat etwas Weiches, irgendetwas zwischen Kissen und Federbett. Wo letzten Sommer jeden Nachmittag Touristengruppen, Hochzeitsgesellschaften, Studententreffen und Geschäftsbesprechungen durchgeführt, fotografiert und abgehalten wurden, sind nun Schatten und Schrittgeräusche meine einzigen Begleiter.

Umso erstaunter bemerke ich die festliche Beleuchtung ringsum. Jede Lampe ist in Dienst berufen. Die ansässigen fünf-Sterne-Hotels beherbergen kaum Gäste. Dennoch scheint der Anblick der Entrees ein wahres Fest im Innern zu versprechen. Die Bauzwillinge, der Französische und der Deutsche Dom strahlen golden um die Wette. Gewinner ist das Schauspielhaus dazwischen mit rotem Stimmungslicht, das jeden Sonnenaufgang verblassen lässt. Der Platz wirkt auf mich wie ein Christbaum nach dem Fest, dem die Lichterkette noch umhängt. Hier, im deutschen Herzen der EU, wird der Wahlspruch der Schotten (Lasst das Licht an, wir kommen zurück!) ernst genommen und für die eigene Krise benutzt.

Der Schneeregen macht das historische Pflaster noch einsamer. Andere eilige Seelen nehme ich nicht wahr, so tief ducke ich mich unter den Schirm. Den Blick nach unten gerichtet, husche ich durch ein paar Flocken, die so einzeln wie ich unterwegs sind. Es könnte glatt sein. Bloß nicht ausrutschen. Der Bruch im Handgelenk ist gerade am Verheilen, das Metall hält ihn noch zusammen.

Zwischen zwei grauen Steinen am Ende des Platzes schimmert es kupferfarben und rund. Ein eingesunkener Kronkorken vielleicht? Ich schubse das Blinken mit der Stiefelspitze, es hopst eine Ritze weiter. Ich bücke mich und halte ein fünf-Cent-Stück in den Fingern. Wo kommt das denn her? Schon lange sind die Geschäfte und Restaurants geschlossen. Seit Wochen flanieren hier keine Besucher, deren Geldbörsen locker genug sitzen, dass Bettler ihnen ein paar Münzen abluchsen könnten. Obdachlose habe ich ewig nicht gesehen. Verschwanden sie vor den Besuchern? Außerdem ist selbst in Bistros und Imbissbuden der Zahlungsverkehr auf bargeldlos umgestellt.

Mehr und mehr begreife ich unter diesen Umständen mein Glück, ein Centstück gefunden zu haben. Noch dazu ohne Tageslicht und bei miesem Wetter! Wieder fällt mir die Geschichte mit dem Glückscent ein, den man für den Nächsten „verlieren“ soll, damit dem Finder ein kleines Lächeln passiert. Ich stecke die fünf-Cent-Münze ein, einen Moment behalte ich sie noch.

Vorsicht – Sie schreibt!

Im Prozess der Anerkennung ihrer Tätigkeit als Autorinnen werden Frauen manchmal-oft-immer indirekt-direkt gefragt, warum sie schreiben. Ob Männer sich dazu genauso oft auslassen müssen, entzieht sich meiner Kenntnis. Vielleicht haben sie offensichtlichere Gründe. Vielleicht nimmt man selbstverständlich das Ergebnis ihres Schreibens als Anlass ihrer Aktivität an.

Aber eine Frau, warum schreibt sie? Wer ist sie? Wen oder was kann sie (dadurch) erreichen? Will sie etwa ein Mann sein und projiziert diesen Wunsch auf ihre Figuren, um auf diese Weise das fehlende Männliche in sich zu kompensieren? Manchmal stelle ich mir überrascht dieselbe Frage. Und bin damit nicht allein in der Welt der Schreibenden.

Neulich bekam ich ein Buch geschenkt über Schriftstellerinnen und ihr Schreiben.
Eine Autorin in dem Buch verrät, sie konnte ihre Protagonistin nicht leiden wegen ihrer „weiblichen Probleme“, sie „mochte sie nicht, weil sie schwach und abhängig war und sich las wie ein Opfer“.

Mit der weiblichen Hauptfigur meines Psychothrillers erging es mir ähnlich. Mein Roman ist ein Hybrid aus Täter- und Opferperspektiven. Beide Figuren, männlicher Täter und weibliches Opfer, sind Schöpfungen meines Geistes, plus natürlich das Begleitpersonal. Es sollte eine ausgewogene Sache werden. Nach ungefähr der Hälfte des Romans geriet ich jedoch ins Schleudern. Das (weibliche) Opfer kam in der Geschichte zu schlecht weg, während der (männliche) Täter mich mehr und mehr reizte.

Ich war drauf und dran, die weibliche Hauptfigur sterben zu lassen, weil sie mir nicht stark genug erschien, zu ergeben in ihr Schicksal. Probleser*innen meines unfertigen Stücks waren anderer Meinung. Sie hegten Sympathien für die Hauptfigur und bangten um ihr Überleben (übrigens nur die weiblichen Leser, die männlichen sahen eine interessante oder schlicht natürliche Wendung im Ableben der Figur). Um sie zu retten, gab ich ihr eine besondere Art, sich mitzuteilen und gleichzeitig für sich zu bleiben. Erst danach war ich einverstanden, mit ihr weiter zu arbeiten.

Seltsamerweise habe ich mich im gleichen Maße, wie sich meine Figur vor ihrer Umwelt verschloss, meiner Umwelt gegenüber geöffnet. Als hätte ich meine Person gespalten in eine männliche Schattierung, die ich der Hauptfigur gab und eine weibliche, die ich für mich behielt und ausbaute. Ich wurde weiblicher, je männlicher ich schrieb.

Nun, wo der letzte Punkt hinter das letzte Wort gesetzt ist, gehören sämtliche Figurenteile wieder mir. Ich frage mich, ob das in Bezug auf den männlichen Anteil gut oder schlecht ist, denn ich bin gerne Frau, und wo oder wie gut ich die, fast von selbst in die Geschichte fließende, Boshaftigkeit des Täters eingesperrt habe. …!

Zaubersterne

Das Fest der Heiligen Drei Könige ist vorbei. Zeit, sich vom Schmuck des Jahresendes zu verabschieden. Mit Bedacht! Und nicht, ohne mich zu bedanken.

Vor etlichen Jahren fuhr ich wegen des Weihnachtsfestes mit dem Zug zu meinen Eltern.
Ich weiß nicht mehr, ob der Zug voll oder leer war, ob wir pünktlich waren oder das Abteil überheizt war. Aber ich erinnere mich an den jungen Mann, der sich mir gegenübersetzte. Bis dahin hatte die Zugfahrt Interessantes vor allem jenseits der Fenster zu bieten. Nun änderte sich das.

Er sprach mich an, allein das überraschte mich, denn sicher habe ich mit einem Buch auf dem Schoß dagesessen und kein Interesse an einer Unterhaltung signalisiert. Völlig ungeübt in Konversation (Smalltalk war ein Fremdwort für mich), reagierte ich ausschließlich auf seine Fragen und Erzählungen. Er fragte und erzählte sehr viel. Irgendwann taute ich auf und verlor die Scheu. Die lange Zugfahrt nach Norden war nicht mehr nur einsames Warten, sie wurde zu einer Unterhaltung mit einem netten Bekannten.

Nein, das war nicht irgendwann, ich kann genau sagen, wie er es geschafft hat. Er fragte mich, ob ich gern bastele, was ich bejahte und zugleich einschränkte, kein besonderes Talent dafür zu besitzen. Daraufhin griff er in seinen Rucksack, legte eine Ansammlung quadratischer Notizzettel auf das Klapptischchen zwischen uns und sagte: Ich zeig dir was. Ist ganz einfach, das kannst du auch. Er begann, das Papier zu falten, drehte es einmal, zweimal, wieder zurück, kniffte und faltete wieder, zum Schluss zeigte er mir den flachen roten Papierstern auf seiner Handfläche.

Das kann ich niemals, raunte ich voll Bewunderung. Er ließ das natürlich nicht gelten, reichte mir einen gelben Zettel, nahm sich ein lilafarbenes Papierstück und leitete mich an, es ihm nachzutun. Zuerst die Diagonalecken übereinander, die Diagonale falten, aufblättern und mit der anderen Seite wiederholen für vier rechte Winkel im Quadrat. Das Blatt umdrehen, dort irgendwas falten, irgendwann das gefaltete Papier nicht nur kniffen, sondern tatsächlich übereinander lassen, an den anderen Ecken wiederholen, Umdrehen … ich habe die einzelnen Schritte schnell wieder vergessen.

Wie kann man solche Schwierigkeiten haben, sich zu merken, wie aus einem Merkzettel ein Papierstern wird? Sowieso sah mein gelbes Exemplar nicht halb so nach Faltkunst aus, wie sein lilafarbenes. Er schob die beiden perfekten zu mir und steckte meinen gelben Faltversuch in seine Tasche. Du kannst die beiden mitnehmen, sagte er. Wenn du sie auseinanderfaltest, kannst du anhand der Kniffe und Falten nachschauen, wie man es macht.

Die zwei Papiersterne sind in eine Kiste in meinem Wohnzimmerschrank gezogen, wo sie Jahr für Jahr darauf warten, in der Adventszeit ausgepackt zu werden und den gebastelten Anteil meiner ansonsten gekauften Weihnachtsdeko erhöhen. Vielleicht sind zwei Sterne ein bisschen wenig, ich sollte welche nachbauen. Aber ich habe nie nachgeschaut, wie es geht. Ich habe sie nie auseinandergefaltet, aus Angst, die ihnen innewohnende Magie zu verscheuchen oder aufzubrauchen. Nicht wie Aschenbrödel, die alle drei Zaubernüsse verbraucht. Immer, wenn sie die letzte Nuss einsetzt, trauere ich, weil keine Magie übrig bleibt. Aber sie bekommt ja am Ende ihren Prinzen.

Ich finde es schön, mir den Glauben an Magie zu bewahren. Dennoch ist mir bewusst, dass die Papiersterne ihren Zauber nur zu Weihnachten verbreiten und mir kein Kleid, keine Tanzschuhe und keine Armbrust bescheren. Ihre Magie ist anders. Sie halten die Erinnerung an diese besondere, gar nicht einsame Zugfahrt zum Weihnachtsfest bei meinen Eltern wach.

Manchmal frage ich mich, was aus dem gelben Stern geworden ist.

Sie schreibt – Zielpublikum

Neulich sagte ich zu meinem Kind (volljähriges Pubertier = Zielpublikum meiner Ansprache): Zieh dir eine warme Jacke an (impliziert, wir haben Winter) und bring den Müll runter. Bitte! – Die sofortige Antwort lautete: Ich will keine Jacke anziehen!
Der Mülleimer war kurz darauf wie von Zauberhand geleert.

Die Frage nach dem Zielpublikum führt mich immer zur Frage, warum ich schreibe.
Wenn ich mit dem Schreiben ausschließlich mich selbst verwirklichen möchte, warum soll ich mich im Thema, im Stil und in der Form nach den Wünschen und Vorstellungen einer mir persönlich größtenteils unbekannten Gruppe richten, mich beschränken oder mir sogar diktieren lassen? Das gilt erst recht, wenn ich nicht für mich schreibe, sondern Anderen etwas zu sagen habe. Was ist denn, wenn die Zielgruppe bemerkt, dass ich sie mit meinem Text für etwas Bestimmtes, gerade dieses, mein Geschreibe, interessieren möchte?

Es gibt einen Grund, warum Kinder- und Jugendliteratur so kompliziert zu vermarkten ist. Kinder sind oft Widerspruchsgeister. Sie baden in dem Wissen, in dem Können, alles abzulehnen und anders zu machen (siehe oben) als ihnen (vorsichtig ausgedrückt) empfohlen wird. Mein Kind ist König dieser Willensbrecher. Er merkt und wittert überall Manipulation. Wie will ich denn herausfinden, was meine Zielgruppe (Kinder und Jugendliche) will, wenn sie es selbst (noch) nicht weiß, außer eben, was sie nicht will?

Es gibt sicher genug Erwachsene (in der Zielgruppe Erwachsene), die sich ihren kindlichen Widerspruchsgeist bewahrt haben und sagen: Nicht dein Vorschlag, nicht dein Angebot, sondern meine Idee macht mich glücklich. Manchmal handelt es sich dabei um ein und dasselbe, aber es können Jahre zwischen der Erkenntnis liegen und der kategorischen Ablehnung davor.

Deshalb nehme ich mir das Recht heraus zu schreiben, was und wie ich will, um mich nicht zu verbiegen, um ehrlich zu mir selbst und meinem widerspenstigen Publikum zu sein.

Sie schreibt – Aufbruchstimmung

Ich lebe in einer Mietwohnung in einem großen Mehrfamilienhaus. Vorderhaus, Seitenflügel und Hinterhaus. Es ist eine schöne Wohnung nach vorne raus. Mit optimaler Aufteilung für eine vierköpfige Familie, Fenstern in allen Räumen, außer in der Abstellkammer, die ja kein Fenster braucht, dafür beherbergt sie ein zweites WC mit Abluftsystem.

Die Kinder wuchsen in dieser Wohnung auf, wechselten in die Kita, in die Schule, ans Gymnasium, ins Studium. In all diesen Jahren wechselten auch etliche Bewohner des Hauses. Die, die mit uns eingezogen sind, zogen aus, später zogen die Nachmieter aus. Ich sah die Umzugswagen vor dem Wohnzimmerfenster auf der Straße, beobachtete die Möbelpacker vom Küchenfenster aus im Innenhof, hörte die Helfer im Treppenhaus und Wehmut überfiel mich. Wohin zogen diese Menschen? Manchmal Bekannte, andere hatte ich nie gesprochen. Wieso zogen sie weg? Hatten sie eine bessere Bleibe für sich gefunden? Hatten ihre Lebensumstände sich geändert? Meistens wusste ich es nicht und würde es nie erfahren. Jedes Mal verglich ich sie mit meinem Leben, bewertete meine Wohnung und stellte fest, wie toll sie ist.

Dennoch ergriff die Sehnsucht nach Erneuerung zuverlässig Besitz von mir. Aufbruchstimmung machte sich breit. Erst seitdem ich schreibe, mit dem Erschaffen anderer Welten und Realitäten, wurde es leichter zu ertragen, dass andere fortzogen, während ich blieb.

Ich mag meine Wohnung. Sehr. Aber die Abenteuer wohnen woanders.