Zaubersterne

Das Fest der Heiligen Drei Könige ist vorbei. Zeit, sich vom Schmuck des Jahresendes zu verabschieden. Mit Bedacht! Und nicht, ohne mich zu bedanken.

Vor etlichen Jahren fuhr ich wegen des Weihnachtsfestes mit dem Zug zu meinen Eltern.
Ich weiß nicht mehr, ob der Zug voll oder leer war, ob wir pünktlich waren oder das Abteil überheizt war. Aber ich erinnere mich an den jungen Mann, der sich mir gegenübersetzte. Bis dahin hatte die Zugfahrt Interessantes vor allem jenseits der Fenster zu bieten. Nun änderte sich das.

Er sprach mich an, allein das überraschte mich, denn sicher habe ich mit einem Buch auf dem Schoß dagesessen und kein Interesse an einer Unterhaltung signalisiert. Völlig ungeübt in Konversation (Smalltalk war ein Fremdwort für mich), reagierte ich ausschließlich auf seine Fragen und Erzählungen. Er fragte und erzählte sehr viel. Irgendwann taute ich auf und verlor die Scheu. Die lange Zugfahrt nach Norden war nicht mehr nur einsames Warten, sie wurde zu einer Unterhaltung mit einem netten Bekannten.

Nein, das war nicht irgendwann, ich kann genau sagen, wie er es geschafft hat. Er fragte mich, ob ich gern bastele, was ich bejahte und zugleich einschränkte, kein besonderes Talent dafür zu besitzen. Daraufhin griff er in seinen Rucksack, legte eine Ansammlung quadratischer Notizzettel auf das Klapptischchen zwischen uns und sagte: Ich zeig dir was. Ist ganz einfach, das kannst du auch. Er begann, das Papier zu falten, drehte es einmal, zweimal, wieder zurück, kniffte und faltete wieder, zum Schluss zeigte er mir den flachen roten Papierstern auf seiner Handfläche.

Das kann ich niemals, raunte ich voll Bewunderung. Er ließ das natürlich nicht gelten, reichte mir einen gelben Zettel, nahm sich ein lilafarbenes Papierstück und leitete mich an, es ihm nachzutun. Zuerst die Diagonalecken übereinander, die Diagonale falten, aufblättern und mit der anderen Seite wiederholen für vier rechte Winkel im Quadrat. Das Blatt umdrehen, dort irgendwas falten, irgendwann das gefaltete Papier nicht nur kniffen, sondern tatsächlich übereinander lassen, an den anderen Ecken wiederholen, Umdrehen … ich habe die einzelnen Schritte schnell wieder vergessen.

Wie kann man solche Schwierigkeiten haben, sich zu merken, wie aus einem Merkzettel ein Papierstern wird? Sowieso sah mein gelbes Exemplar nicht halb so nach Faltkunst aus, wie sein lilafarbenes. Er schob die beiden perfekten zu mir und steckte meinen gelben Faltversuch in seine Tasche. Du kannst die beiden mitnehmen, sagte er. Wenn du sie auseinanderfaltest, kannst du anhand der Kniffe und Falten nachschauen, wie man es macht.

Die zwei Papiersterne sind in eine Kiste in meinem Wohnzimmerschrank gezogen, wo sie Jahr für Jahr darauf warten, in der Adventszeit ausgepackt zu werden und den gebastelten Anteil meiner ansonsten gekauften Weihnachtsdeko erhöhen. Vielleicht sind zwei Sterne ein bisschen wenig, ich sollte welche nachbauen. Aber ich habe nie nachgeschaut, wie es geht. Ich habe sie nie auseinandergefaltet, aus Angst, die ihnen innewohnende Magie zu verscheuchen oder aufzubrauchen. Nicht wie Aschenbrödel, die alle drei Zaubernüsse verbraucht. Immer, wenn sie die letzte Nuss einsetzt, trauere ich, weil keine Magie übrig bleibt. Aber sie bekommt ja am Ende ihren Prinzen.

Ich finde es schön, mir den Glauben an Magie zu bewahren. Dennoch ist mir bewusst, dass die Papiersterne ihren Zauber nur zu Weihnachten verbreiten und mir kein Kleid, keine Tanzschuhe und keine Armbrust bescheren. Ihre Magie ist anders. Sie halten die Erinnerung an diese besondere, gar nicht einsame Zugfahrt zum Weihnachtsfest bei meinen Eltern wach.

Manchmal frage ich mich, was aus dem gelben Stern geworden ist.