Sie und Er

Ich werde sie immer nur sie nennen. Manchmal rutscht mir vielleicht heraus, sie als junge Frau zu sehen, wobei ich sie mit mädchenhaftem Charme beschreiben möchte, aber in Wirklichkeit meine ich immer sie. Und ihn. Nur diese beiden. Und dann gibt es da noch, aber nein, diese Person ist nicht wichtig. Sie werden sehen. Es geht also um diese Zwei, sie und ihn. Sie können sich gern Namen für sie ausdenken, aber sie brauchen keine. Sie haben sich selbst welche gegeben. Doch warum fange ich nicht am Anfang an?
Es gab mal eine Zeit, in der sie Angst hatte, das Ende des gemeinsamen Projektes würde auch das Ende ihrer persönlichen Kontakte bedeuten. Nein, wir gehen besser noch ein Stück weiter zurück. Noch vor den Anfang, als keiner der beiden auch nur entfernt an einen Namen für den anderen dachte, weil sie sich erst kennen lernen mussten. Und das taten sie an einem Januartag, der den
Winter so überzeugend präsentierte, wie das im gemäßigten Klima einer Großstadt mitten in Mitteleuropa möglich war.
Während des Mediziner Seminars zur Einführung in die chinesische Ernährungslehre gab es zwar Verpflegung, um den gebildeten Wissensdurst (in den Griff zu bekommen), aber satt wurde die junge Frau davon nicht und genug Energie, um nicht mehr zu frieren, steckten in Mi-Nudeln offenbar auch nicht. Nachdem sie sich über sechs Stunden hungrig gehört hatte, schloss sie sich einer munteren Schar Seminarteilnehmer auf der Suche nach gehaltvollem Essen in der City an, was in einer Stadt wie Salzburg leicht zu schaffen sein sollte. Die Gruppe fand ein nettes Ristorante mit einem leidenschaftlichen Pizzabäcker, der die Meinung nicht nur verbal vertrat sondern auch lebte, ein Wirt müsse seine Gäste mit würzig-warmem Duft in die trockene Stube locken und mit
Herzlichkeit lange dort behalten. Die Speisekarte versprach eine kulinarische
Reise ins echte Italien und ihr Sitznachbar versprach, eine kompetente Begleitung zu sein.
Beide könnten heute nicht mehr sagen, wie oft sie sich in den vergangenen zwei Jahren gegenseitig an die ersten Sätze des Abends erinnert haben (zwei Flaschen Wein hatten die letzten wachen Worte bis zur Unkenntlichkeit verwaschen). Sie umfassen einander mit zärtlichem Blick und gedenken der ausgelassenen Stimmung, die Schuld an der Idee eines gemeinsamen Projektes zur Untersuchung der Durchmischung mitteleuropäischer Esskulturen unter dem Einfluss fremdkontinentaler Speiseriten war. Wäre der Einfluss des Alkohols bei der Geburt dieser Idee geringer gewesen, hätten die beiden vielleicht niemals Gelegenheit zur Zusammenarbeit bekommen, denn ihr Fachgebiet hieß, aber das tut eigentlich nichts zur Sache. Dazu kommen wir später.
Inzwischen hatten sie Pizza quattro stagioni so oft zusammen gegessen, dass der markante Geschmack auf ihrer Zunge sogar Bilder und Töne von ihm erzeugte, wenn sie abends allein vor dem Fernseher dem Fast Food huldigte. Inzwischen war sie sich seiner Zuneigung so sicher, dass sie von sich aus an
Liebe glaubte. Inzwischen glaubte sie, er sei derjenige, der ein Ende der Beziehung mit dem Abschluss der gemeinsamen Studie befürchtete.
Wenn es dafür eines Beweises bedurfte, erinnerte sie sich an ihren letzten Geburtstag. Ein sehr harmonisches Treffen, natürlich mit Jahreszeiten-Pizza und trotz der vielfältigen Anspielungen überraschenden Geschenken von ihm. Jedes einzelne so verpackt, dass sein Geheimnis bis zum Moment des Erkennens bewahrt wurde. Keines aufdringlich oder besitzergreifend. Jedes einzelne hochpersönlich, lang durchdacht, mit absichtsvoller Freude ausgewählt, diffundierte so unkompliziert unter ihre Haut, durch jede Zellwand bis in ihr Seelenzentrum wie die oft versprochene und doch nie eingehaltene Wirkung hochwirksamer Medikamente gegen Liebeskummer. Kein hastig hinausgeschleudertes Versprechen, sondern ein Innehalten, das der Ungeheuerlichkeit des Gestehens angemessen erschien. Jedes einzelne individuelle Präsent flüsterte: Ich liebe dich.