Kleine Werkschau

Die Kleine Werkschau ist fertig.
Eine Art Visitenkarte als Lyrikerin, als Autorin, als Fotografin.

51 Seiten Text, abwechselnd Lyrik und Kurzgeschichten, aufgelockert und unterstützt mit Fotografien.
Bei Interesse kann gern unter der Kontaktadresse bestellt werden.

Geh nicht

Warmer Wind umbraust mich, Sturm eigentlich, wie Fön, Fallwind ohne Gebirge. Es ist Sommer, trotzdem fallen die Blätter, hellblau sind sie, gelb mit dunklem Rand, rotorange gepunktet und schmutzig weiß liegen sie in der Sonne, bis sie plötzlich aufflattern und wieder Schmetterlinge sind. Seit Wochen ist Sommer.
Heute ist es anders, ich merke es gleich, als ich in die langen Schatten innerhalb des hellgelben Zimmers trete, dieselben Schatten haben sich in ihr liebes Gesicht gegraben, Schmetterlinge torkeln gegen meine Bauchwand. Mit Bedacht hänge ich den Mantel an den Garderobenhaken hinter der Tür, lockere Krawatte und Gürtel und setze mich zu ihr ans Bett. Sie wirkt schwächer als sonst, leiser, zarter, noch leichter als die Drachen, die wir am Strand durch den Seewind unserer jungen Jahre trugen, leicht wie ein Schmetterling, der nicht fliegt.
Das große Fenster fängt nur wenig Licht für uns ein. Im Feierabendverkehr habe ich viel Zeit verloren. Kein Vorwurf von ihr, sie schaut mich an mit diesem Ausdruck des eingelösten Versprechens, der jede Fahrt durch jeden Stau auf jeder Stadtautobahn wert ist, sie hat ihren Frieden gemacht mit dem Warten, irgendjemand sucht und findet sie, entweder ich oder der folgende Tag oder das nächste Leben.
„Gut siehst du aus“, sie sagt das nicht nur so. Immer achtet sie auf meine Garderobe, schätzt die Mühe, die ich darauf verwende, bevor ich zu ihr aufbreche und ich merke ihr an, dass sie gern Rouge aufgelegt hätte, mich lieber mit geordnetem Haar empfangen hätte und ich streiche die dunklen Strähnen aus ihrem blassen Gesicht. Immer begrüßt sie mich, als kehrte ich nach Hause zurück: „Erzähl mir von deinem Tag, Schatz.“
Sie lebt das Leben mit, soweit ihre Vorstellungskraft reicht. Lächelnd quittiert sie meinen Bericht, in dem ich mich gegen den Chef behaupte. Bis ich eines Tages selbst Chef bin, wie sie gerne sagt. Sie singt begeistert jeden Song, den ich für die Gitarre komponiere, das Instrument ist heute nicht dabei, ich hatte Eile, rechtzeitig da zu sein, wenn sie wach ist. Sie spitzt die Ohren für Friedas und Jennys Erfolge in der Schule. Die Zeugnisse, die sie zuletzt unterschrieb, sind deutlich verbessert. Auch die Mädchen sind heute nicht dabei. Bewusst enthalte ich ihnen diesen Moment vor, mit Absicht stehle ich ihn aus ihrem jungen Leben. Später wird man mir den Vorsatz vorwerfen, vielleicht.
Später werde ich erklären, dass nicht ich es war, der die beiden fernhielt. Es war die Zeit, die nur einen Besucher erlaubte, obwohl es menschengemachte Regeln sind. Sie nickt, als hätte sie nichts anderes erwartet. Die Weisheit des Vorausgehenden, unaufdringlich spendiert. Heute ist es mühsam, ihr warmes Lächeln ist dasselbe, doch die Aufmerksamkeit flieht.
Seit zwei Wochen frage ich nicht mehr. Zuerst konstruierten wir Witze, wir verfilmten den Murmeltiertag neu mit ihr in der Hauptrolle. Was für eine Komödie das wäre, getragen von ihrem unbeugsamen Humor. Irgendwann schwand die Hoffnung auf das Happyend, mit jedem stummen Kopfschütteln, mit jedem tiefem Seufzer von Pflegeschwester und Arzt, mit jedem schwächeren Atemzug wird es klarer. Zweifel quälen mich. Was hätte ich anders regeln können? Versteht sie, wie dankbar ich bin für die Zeit mit ihr?
Ich nehme ihre Hand, fahre die Linien auf der Innenseite ab, zeichne ein Herz hinein. Sie hat die Augen geschlossen. Ich stelle mir vor, wie sie meinen Berührungen nachspürt, als wären wir in den Ferien am Strand und malten uns gegenseitig Bilder und Buchstaben auf den Rücken, mit Fingern und Sonnencreme, rate, was ich gemalt habe. Kurven, Linien und Punkte verschwimmen auf den Monitoren neben ihrem Bett.
Wie oft haben wir den Abschied geübt, Murmeltiertag, ihn zelebriert, als wäre es der letzte. Wie jedes Mal, wenn die Schatten zur Nacht werden wollen, sagt sie: „Geh nicht.“
Unnötig, denn Fallwinde halten mich auf, Ostseesand tropft durchs Stundenglas und Schmetterlinge in meinem Bauch taumeln als Herbstlaub auf den Grund meiner Seele. Heute bin nicht ich es, der geht. Es ist ihr Abschied und sie wird nicht aufstehen dafür.

Schreibreise Zinnowitz 04.-08. September 2019

Arbeitsplatz Strand. Das größte Plus an einer Schreibreise an die Ostsee.

Der nachfolgende Text entstand während der Nachtwanderung, die traditioneller Bestandteil der Schreibreise mit meiner Autorengruppe ist. Ein Stück Fantasie, das in ein neues Projekt verwebt wird. Ein Jugend-Fantasy-Thriller.

Ich bin allein und schließe die Jacke dicht unter dem Kinn. Dann drehe ich mich weg vom Mond und den zerrissenen Wolken.
Er ist bei mir. Obwohl wir nie hier waren. Trotzdem erklärt mir Jamie jetzt, in diesem Moment, mit Streicheln und Küssen wie das Meer sich anhört. Ewiglich. Schwarzes Glänzen trägt salziges Zittern.
Das Scheinwerferlicht erreicht uns nicht. Aufrecht stehe ich am Ufer und schaue dem fernen Suchen zu. Ich bin fort, entwischt und habe Jamies Seele mitgenommen. Wer immer ihn hat sterben lassen, muss damit rechnen, von mir gefunden zu werden. Ich werde nicht zulassen, dass mit mir dasselbe passiert.
Zwanzig Schritte weiter fasziniert mich blauschwarzer Batikhimmel mit Glitzer. Kein Wind am Boden, nur in den Kronen hoch über mir und auch nur manchmal wie ein vorüber fliegendes Flugzeug. Die Sterne sind in den Baum gesteckte Kerzen. Mein Geburtstagsbaum. Wann habe ich eigentlich Geburtstag? Ich weiß es nicht. Warum nicht heute? Mein erster Tag als ich Selbst, kein gelenktes Subjekt. Genauso wie andere Lebewesen, die sich mit mir zwischen die Stämme ducken. Es gibt sie. Vorhin habe ich zwei gelbe Augen gesehen und mich erschreckt. An, aus. Anders als der Suchscheinwerfer.
Jamies kalte Hand legt sich um meine Faust. Sein kühler Atem leckt meine Wange. Ich wische das Salz aus dem Gesicht.
Wo kommst du her?, malt ein fremder Finger in den Sandboden vor mir.

Rosalie

In zwei Stunden wird der Wind die traurigste Version von Yesterday auf den Cellosaiten spielen, die aus dem grauen Himmelsfilz zur Erde wachsen. Die Decke, in die Rosalie dann gehüllt ist und die sie jetzt noch zusammengefaltet unter dem Arm trägt, wird sie nicht wärmen. Auch nicht die Turnschuhe, die an den Schnürsenkeln zusammengebunden zwischen ihren Fingern im Rhythmus ihrer tanzenden Schritte baumeln und den blauen
Rand ihres schwingenden Sommerrocks mit der hellen Staubspur des
Feldweges markieren, den sie in den letzten Wochen zum See genutzt hat. „Rosalie“ weiterlesen

Gedichte waren meine erste Liebe.
Noch bevor ich lesen konnte, habe ich gereimt. An sich ist das nichts Außergewöhnliches, denn üblicherweise bekommt – oder vielleicht sollte ich sagen – bekam man den Stift erst in die Hand, wenn man sich durch Reden als der Sprache Herr gezeigt hat. Bei neunmalklugen Quasselstrippen ergibt sich dann zwangsläufig das ein oder andere gereimte Ende, einfach so, um überhaupt mal einen Punkt setzen zu können. Außerdem helfen Reime, sich Dinge zu merken. So lebenswichtige Regeln wie „Bei Rot bleib stehen, bei Grün kannst‘ gehen“ oder Flirttechniken wie „Mein rechter, rechter Platz ist leer, ich wünsche mir den Peter her“. Mit so einer knappen Aussage kommt man auch schnell auf‘s Wesentliche.
Es gibt also gute Gründe für Gedichte, auch für solche, die sich reimen. Ich glaube, keiner davon war Anlass für mich, mit dem Dichten anzufangen. Vielmehr wollte ich einer geliebten Dichtergröße nacheifern, meiner Großmutter. Die meisten meiner Gedichte hat sie nie gesehen und würde sie auch jetzt nicht lesen. Sie war immer der Meinung, dass ein Gedicht, mehr als andere Literatur, am meisten Wirkung durch den Vortrag erhält. Ein Argument, dass nicht nur durch die Weisheit des Alters Gewicht hat.
Meine Gedichte habe ich deswegen ausnahmslos als Hördatei eingestellt Zu(m)Hören. Ich hoffe, es gefällt euch.