Rosalie

In zwei Stunden wird der Wind die traurigste Version von Yesterday auf den Cellosaiten spielen, die aus dem grauen Himmelsfilz zur Erde wachsen. Die Decke, in die Rosalie dann gehüllt ist und die sie jetzt noch zusammengefaltet unter dem Arm trägt, wird sie nicht wärmen. Auch nicht die Turnschuhe, die an den Schnürsenkeln zusammengebunden zwischen ihren Fingern im Rhythmus ihrer tanzenden Schritte baumeln und den blauen
Rand ihres schwingenden Sommerrocks mit der hellen Staubspur des
Feldweges markieren, den sie in den letzten Wochen zum See genutzt hat.
Dies ist keine Geschichte, die Sie selbst lesen wollen. Deshalb werde ich Sie Ihnen vorlesen. Und wenn nur einer von Ihnen zuhört, Sie da, oder Du, dann seid ihr schon gewarnt. Die Wahrheit hat viele Gesichter. Nicht jedes siehst du sofort. Sei auf der Hut, wenn die schlimmste Wahrheit Gestalt annimmt.
Einstweilen scheint die Sonne wie in den ersten Tagen des Sommers, der die Bewohner in diesem Landstrich im Norden Brandenburgs mit seiner Hitze quälte wie ein nie enden wollender Schnupfen. Zu Beginn der heißen
Periode hing das Laub noch frisch in den Bäumen und glänzte vom letzten
Regen statt wegen klebriger Läusespuren und das Eis, dass die Gruppe
Jugendlicher um Severin und Tristan sich gegönnt hatte, bezweckte den
Genuss von Aroma statt einfacher Kühlfunktion. Tristan hielt seine Waffeltüte gegen das Sonnenlicht und beobachtete durch zusammengekniffene Augen, wie alles Licht in die Sonne zu wandern schien und der Schatten dem Rosa der Erdbeereiskugel die Farbe stahl. Klebrig blieb es trotzdem. Er wechselte die Hand und leckte die glänzende Schmelzspur von den Fingern.
„Hey, da kommt sie!“ Wütend starrte Tristan auf das Eis, das durch den heftigen Stoß von Severins Ellbogen aus der Waffel getrieben und ins Gras gefallen war.