Warmer Wind umbraust mich, Sturm eigentlich, wie Fön, Fallwind ohne Gebirge. Es ist Sommer, trotzdem fallen die Blätter, hellblau sind sie, gelb mit dunklem Rand, rotorange gepunktet und schmutzig weiß liegen sie in der Sonne, bis sie plötzlich aufflattern und wieder Schmetterlinge sind. Seit Wochen ist Sommer.
Heute ist es anders, ich merke es gleich, als ich in die langen Schatten innerhalb des hellgelben Zimmers trete, dieselben Schatten haben sich in ihr liebes Gesicht gegraben, Schmetterlinge torkeln gegen meine Bauchwand. Mit Bedacht hänge ich den Mantel an den Garderobenhaken hinter der Tür, lockere Krawatte und Gürtel und setze mich zu ihr ans Bett. Sie wirkt schwächer als sonst, leiser, zarter, noch leichter als die Drachen, die wir am Strand durch den Seewind unserer jungen Jahre trugen, leicht wie ein Schmetterling, der nicht fliegt.
Das große Fenster fängt nur wenig Licht für uns ein. Im Feierabendverkehr habe ich viel Zeit verloren. Kein Vorwurf von ihr, sie schaut mich an mit diesem Ausdruck des eingelösten Versprechens, der jede Fahrt durch jeden Stau auf jeder Stadtautobahn wert ist, sie hat ihren Frieden gemacht mit dem Warten, irgendjemand sucht und findet sie, entweder ich oder der folgende Tag oder das nächste Leben.
„Gut siehst du aus“, sie sagt das nicht nur so. Immer achtet sie auf meine Garderobe, schätzt die Mühe, die ich darauf verwende, bevor ich zu ihr aufbreche und ich merke ihr an, dass sie gern Rouge aufgelegt hätte, mich lieber mit geordnetem Haar empfangen hätte und ich streiche die dunklen Strähnen aus ihrem blassen Gesicht. Immer begrüßt sie mich, als kehrte ich nach Hause zurück: „Erzähl mir von deinem Tag, Schatz.“
Sie lebt das Leben mit, soweit ihre Vorstellungskraft reicht. Lächelnd quittiert sie meinen Bericht, in dem ich mich gegen den Chef behaupte. Bis ich eines Tages selbst Chef bin, wie sie gerne sagt. Sie singt begeistert jeden Song, den ich für die Gitarre komponiere, das Instrument ist heute nicht dabei, ich hatte Eile, rechtzeitig da zu sein, wenn sie wach ist. Sie spitzt die Ohren für Friedas und Jennys Erfolge in der Schule. Die Zeugnisse, die sie zuletzt unterschrieb, sind deutlich verbessert. Auch die Mädchen sind heute nicht dabei. Bewusst enthalte ich ihnen diesen Moment vor, mit Absicht stehle ich ihn aus ihrem jungen Leben. Später wird man mir den Vorsatz vorwerfen, vielleicht.
Später werde ich erklären, dass nicht ich es war, der die beiden fernhielt. Es war die Zeit, die nur einen Besucher erlaubte, obwohl es menschengemachte Regeln sind. Sie nickt, als hätte sie nichts anderes erwartet. Die Weisheit des Vorausgehenden, unaufdringlich spendiert. Heute ist es mühsam, ihr warmes Lächeln ist dasselbe, doch die Aufmerksamkeit flieht.
Seit zwei Wochen frage ich nicht mehr. Zuerst konstruierten wir Witze, wir verfilmten den Murmeltiertag neu mit ihr in der Hauptrolle. Was für eine Komödie das wäre, getragen von ihrem unbeugsamen Humor. Irgendwann schwand die Hoffnung auf das Happyend, mit jedem stummen Kopfschütteln, mit jedem tiefem Seufzer von Pflegeschwester und Arzt, mit jedem schwächeren Atemzug wird es klarer. Zweifel quälen mich. Was hätte ich anders regeln können? Versteht sie, wie dankbar ich bin für die Zeit mit ihr?
Ich nehme ihre Hand, fahre die Linien auf der Innenseite ab, zeichne ein Herz hinein. Sie hat die Augen geschlossen. Ich stelle mir vor, wie sie meinen Berührungen nachspürt, als wären wir in den Ferien am Strand und malten uns gegenseitig Bilder und Buchstaben auf den Rücken, mit Fingern und Sonnencreme, rate, was ich gemalt habe. Kurven, Linien und Punkte verschwimmen auf den Monitoren neben ihrem Bett.
Wie oft haben wir den Abschied geübt, Murmeltiertag, ihn zelebriert, als wäre es der letzte. Wie jedes Mal, wenn die Schatten zur Nacht werden wollen, sagt sie: „Geh nicht.“
Unnötig, denn Fallwinde halten mich auf, Ostseesand tropft durchs Stundenglas und Schmetterlinge in meinem Bauch taumeln als Herbstlaub auf den Grund meiner Seele. Heute bin nicht ich es, der geht. Es ist ihr Abschied und sie wird nicht aufstehen dafür.