Dieses Jahr ist wie ein abwesender Liebhaber: sein verlockendes Deo schwebt in der Luft, aber er ist nicht da und die Wiederholung der tollen Tage nicht in greifbarer Nähe.
Manchmal habe ich das Gefühl, alle guten Sprüche sind schon gesagt, alle guten Geschichten schon erzählt. Ich kann sie nur noch neu interpretieren. Bei manchen Tagen, Wochen und Monaten des Jahres kommt es mir genauso vor. Es hat sie alle schon zigmal gegeben und es gilt, die bestmöglichste Auslegung zu finden.
Der vorletzte Tag der vorletzten Woche dieses Jahres beginnt spät und grau. Beim ersten hellen Lichtzipfel zieht es mich nach draußen. Ich könnte, statt wieder (und wieder) um den nahen See zu wandern, am Schreibtisch über dieses komische Jahr nachdenken. Ach Gott, nein, zurückschauen ist nichts für mich. Das ist, wie rückwärts um den See zu laufen, nachdem ich endlich alle Stolperfallen im Vorwärtsgang umrunde und meine Aufmerksamkeit auf die Glückseligkeiten im Verborgenen richten kann. Ich weiß, unter welchen Bäumen am Ostufer die Schneeglöckchen blühen, an welcher Stelle auf der Nordseite der Weg immer rutschig ist und in welchen Schilfecken die Entenmamas ihre Küken verstecken. Ich weiß, wo die Schatten im Sommer am dichtesten und im Herbst am längsten sind. Ich habe beobachtet, welche Bäume gefällt, zerlegt und von Kaminbesitzern weggetragen und welche für den nächsten Schnitt markiert wurden.
Jahreswechsel in den Wechseljahren. Kein Wunder, die vergangenen Monate sind wie ein Hin und Her zwischen Noch-nicht und Nicht-mehr. Jenseits der Vierzig sieht und hört man nicht mehr richtig gut, aber noch nicht so schlecht, Hinweise auf das Altern zu übersehen und überhören zu können. Einerseits ist es noch nicht Menopause, weit davon entfernt ist es aber nicht mehr. Kinder im Haushalt, die noch nicht selbstständig sind, aber nicht mehr willens, sich ins Leben reden zu lassen. 18- und über 20jährige, von denen es nur noch abgewehrte Schnappschüsse und fremd wirkende Bewerbungsfotos gibt, weil sie der elterlichen Dokumentation ihrer Lebensereignisse aus dem Weg gehen.
Ich habe mir angewöhnt, den Fotoapparat überallhin mitzunehmen. Landschaftsaufnahmen im Zwielicht, Stillleben der Natur oder Besonderheiten und Absurditäten menschlichen Wirkens in der Sekunde konserviert, in der ich sie erlebe. Ändert sich meine Einstellung bei einer späteren Betrachtung?
War es richtig, die 16:8- Diät auszuprobieren? Das Gewicht scheint sich lediglich verschoben zu haben, vom Frühjahr in den Herbst. War es leichter, noch nicht zu essen, bis die Start gebende Stunde am Vormittag erreicht war oder schwieriger, schon ab dem Nachmittag nicht mehr an den Kühlschrank zu pendeln? Es fühlte sich jedenfalls besser an, das Angenehme noch vor sich zu haben.
Das Licht des späten Vormittags fällt durch die leeren Äste der Laubbäume auf das blauschwarz glänzende Band des neuen Uferweges. Nur wenige Andere sind mit mir unterwegs. Viele haben mit dem Ausweiten des Homeoffice verlernt, hinaus zu gehen. Ein Grund, weshalb ich Homeoffice für mich bisher abgelehnt habe. Zweien von drei in unserem Haushalt lässt man inzwischen keine Wahl. Möglicherweise verwandelt sich mein „noch nicht“ jetzt für mich in „nicht mehr“, wie wenn ich die unreifen grünen Bananen zu lange liegen lasse, bis sie braunfleckig und ungenießbar geworden sind. In diesem Jahr lerne ich den Unterschied zwischen Freizeit und Freiheit mit dem Gelingen oder Scheitern jeder selbst bestimmten Aktion.
In Bezug auf meinen Urlaub bewies ich besseres Planungsglück. Meine Erholungszeit an der Ostsee fand statt, als die meist diskutierten Zahlen nicht mehr die erste Welle bedeuteten und noch nicht die zweite. Wer öfter am Meeresstrand steht, weiß, dass nach der ersten immer eine zweite und dritte Welle den Schaum und die Quallen, das Seegras und Treibholz anspült. Ab und an sogar Bernstein. Ich habe noch nie Bernstein gefunden, aber ich schaue jedes Mal voller Hoffnung auf das Glitzern vor meinen Füßen.
Der See vor mir schwappt mit winzigen Wellen ans Ufer. Zu kalt, um darin baden zu wollen. Im Sommer war ich versucht, die Qualität des Wassers auszuprobieren, nun hat es seine Anziehungskraft verloren. Auch das alte Jahr zieht nicht mehr an mir, wohin gegen das neue mich noch nicht reizt. Weil ich losgelassen, aber nichts angepackt habe. Ich arbeite nicht mehr an meinem alten Projekt, bin aber im neuen noch nicht richtig angekommen. Gerade merke ich, für meine Projekte bin ich der unstete Liebhaber. Und wenn ich wählen kann, entscheide ich mich lieber für das neue, denn in Sachen Sex ist, „noch nicht“ besser als „nicht mehr“ damit beschäftigt zu sein und unbeachtet liegen gelassen zu werden.
Rings um mich erstarrte Landschaft, plötzlich bewegt sich neben mir etwas, klein und flink, schnelle Farbe, grün-schwarz-gelb. Ich suche den Vogel, der munter von Zweig zu Zweig federt, immer höher hinauf. Da, ich glaube ihn gefunden zu haben, aber es ist nur ein Blatt, das mich narrt. Ich lasse den Fotoapparat sinken, kein Bild von einem Vöglein. Viele Federträger haben in den vergangenen Wochen und Monaten Platz genommen für ein Portrait, Kormorane auf Wachposten mitten im See, Enten im schattigen Mittagsschlaf, ein Schwanenpaar mit verliebten Hälsen. Und nun, nur ein graugrünes Blatt. Trotz in der Hand hebt die Fotolinse an den Strauch, Neugier in den Fingern löst das Foto aus.
Im Laufe des letzten Jahres sind viele Fotos auf den Speicherchip gebannt worden. Sie sind lange nicht mehr so unkonzentriert und ziellos wie am Anfang, wo das Probieren mehr zählte als das Ergebnis, aber natürlich sind sie auch lange noch nicht so professionell, dass das Ergebnis mehr zählen könnte als das Probieren. Eine Fotodokumentation durch die Spaziergänge des Jahres ist es allemal.
Inzwischen ist das Sonnenlicht von kriechendem Nebel gefangen. Kein Licht, keine bunten Farben, keine Überraschung. Ein schattendunkles Blatt vor eisgrauer Seekulisse, aber geformt wie ein Herz. Wind kommt auf, pustet mir kalt an den Hals, umspielt mein Gesicht und fingert nach dem trockenen Blattstiel. Ich sehe nicht hin, will kein Zeuge sein, wie das Herzblatt fällt.
Nicht mehr lange, dann schlage ich ein neues Bild in einem neuen Kalender auf. Immer noch neugierig auf die Überraschungen, die dann wie Bernstein zwischen Quallen und Seegras vor meinen Füßen landen und neue Herzblätter an den Zweigen sprießen lassen.