Morgens um sieben im Bad. Es ist Sonntag. Radio an. Fröhliche Rhythmen antworten dem Einschalten. Irgendein Song, der mich sofort mitreißt. Ich kenne ihn und doch fühlt er sich frisch und neu an. Ich krame in meinem Gedächtnis nach dem Titel. Dabei wird mir klar, es ist Popmusik!
Vier Wochen lang spielte der Radiosender ausschließlich Weihnachtshits. Ab heute zucken die Muskeln nicht mehr mit dem Klang von Schlittenschellen und Kirchenglocken, ab heute schluchzt das Herz nicht mehr im Walzertakt nach weißer Weihnacht und Wünschen fürs Fest. Ich drehe mich wild in den Flur durch die Wohnung. Die Popmusik folgt mir, schwebt durch die Räume und verschleiert die Kerzengestecke. In Sekundenschnelle wirkt das Tannengrün trocken und alt. Es hat seinen Zweck erfüllt. Dann kann es jetzt auf den Kompost. Oder nicht?
Als ich klein war, trauerte ich der Entsorgung des Christbaums mit jeder rieselnden Nadel entgegen. Nein, noch nicht, kniete ich mich schützend vor das geschmückte Holz. Längstens bis zum 06.01., hieß es, wobei mir die Ankunft der Heiligen drei Könige oder das russische Jolka-Fest genauso fern waren wie die übrigen kirchlichen Gebräuche und unsere russischen Freunde. Doch schon als Kind lieben wir die Zugabe von Dingen, die uns guttun. Selbst als Erwachsene bitten wir um die Verlängerung von Nächstenliebe, Freigiebigkeit, Toleranz und Hoffnung. Und langsam dahinfließender Zeit.
So viele Einladungen wie dieses Jahr haben mich noch nie erreicht. Noch nie wollte ich sie alle annehmen. Meine Eltern, meine Freunde*, meine Kollegen* (beruflich und im Freizeitbereich), Veranstaltungen im Museum, im Theater, in der Kunstgalerie und im Radio, als Mitwirkende oder im Publikum – alles online. Alles gleichzeitig?
Zeit ist nicht vermehrbar. Sie jetzt mit Aufräumen des vergangenen Festes zu verbringen, statt die vielen übrigen Einladungen in meine wachen Stunden zu sortieren, kommt mir verrückt vor. Mag das Tannengrün schon grau sein, lass es rieseln, sag ich mir. Wenigstens bis zum 06.01.
https://youtu.be/jvv_jvAZigo
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