„Schreiben Sie darüber!“, sagt Torsten. Dabei weiß er doch gar nicht, dass ich Autorin bin. Oder doch? Er könnte es in meiner Akte gelesen haben, aber wann hat er dafür Zeit gehabt?
Außerhalb des Schreibkollegiums ist der Nanowrimo (national novel writers month) nicht überall bekannt. Der November wird für viele Autoren zu einer Art Schreibmarathon. Dann nämlich findet länderübergreifend der Wettbewerb statt, mit dem den dunkler werdenden Tagen die bunt schillernde Welt der Geschichten entgegensetzt wird.
Dieses Jahr ist der Schreibmonat eine besondere Herausforderung für mich nach einem Sturz, bei dem ich mir Ende September das Handgelenk gebrochen habe. So unglücklich, dass eine Operation notwendig war, mit Unterkunft und Verpflegung für zweieinhalb Tage in der Charité. In einer Zeit, in der alle möglichen Leute über Blumenkübel stürzten, von Fahrrädern kippten, in Straßenbahnschienen hängen blieben, Zusammenbrüche und unklares Fieber hatten und die steigenden Coronainfektionen in der Hauptstadt den Generalverdacht der zweiten Welle in jedes Krankenhaus trugen. Das Uni-Klinikum war voll, voller, am vollsten. Am Unfalltag brauchten die überforderten Mitarbeiter der Rettungsstelle sage und schreibe acht Stunden für die Versorgung meines kaputten Arms in der Notaufnahme bis zur Entlassung nachts um halb zwei nach Hause mit Unterarmgips und Termin zur OP-Besprechung.
Am Freitagvormittag zogen kräftige Hände mein Bett zwei Stunden nach dem Aufruf zur OP aus dem Aufwachraum in Richtung Fahrstuhl und Torsten stellte sich mir als Pfleger vor. Ein echtes Berliner Urgewächs in der typischen Baumwollkombi aus Kurzarmhemd mit V-Ausschnitt, Gummibundhose und Clogs. Ein Blaumann der besonderen Art.
Torsten lässt sich von allen Patienten duzen. Sein Gesicht bekomme ich nie ganz zu sehen, der Mund-Nasen-Schutz ist selbstverständlich, aber seine Augen blicken wach und freundlich und ständig umher, ob alles in Ordnung ist. Torsten redet und erzählt gern und viel. Mit umfangreichem Wortschatz preist er den Fensterplatz im Zweibett-Zimmer und den außerordentlichen Service der Küche an. Dann ist er weg. Kommt aber gleich zurück, befreit mich von der Infusion, erklärt die Funktion der Patientenklingel (Wir sind ein großherrschaftliches Haus, wenn Sie etwas brauchen, klingeln Sie und ich bin so schnell wie möglich wieder hier.) und fragt, ob ich jetzt gleich seine Hilfe benötige. Fast wie ein Butler in einem richtig, richtig teurem Hotel. Er kennt das Haus und die Station wie sein Zuhause. Seit dreißig Jahren arbeitet Torsten als Pfleger in der Charité. Mit fünfundzwanzig hat er angefangen, sagt er und zwinkert mir im Hinausgehen zu.
Er gehört zur Risikogruppe der Überfünfzigjährigen. Ich mag mir die Station nicht ohne ihn vorstellen. Seine ruhige, fröhliche Art wird genauso nötig gebraucht wie die Medikamente, die er austeilt. Sie sind zu zweit auf diesem Flur, er für die Chirurgie und eine Kollegin von der Neurologie auf dem hinteren Teil. Sie stimmen sich ab, wenn ein Patient zu zweit versorgt werden muss. Meine Zimmernachbarin ist so ein pflegeintensiver Fall. Sie kann überhaupt nichts allein, außer atmen und sprechen. Als eine von wenigen Patienten bin ich in der Lage, ohne Unterstützung aufzustehen und umherzulaufen. Die meisten Türen zu den Patientenzimmern stehen -wie mindestens ein Fenster im Zimmer- offen, um Querlüftung zu erreichen.
Immer wieder sehe ich Patienten, die reglos im Bett ausharren, schwerkrank, wahrscheinlich schwer pflegebedürftig. Im Vergleich dazu befindet sich wenig Personal auf der Station. Einmal am Tag kommt ein Arzt, niemand weiß so genau, wann. Die Stationsleitung trägt ein Headset, weil das Telefon nie stillsteht. Patienten müssen verlegt werden, werden zwischengeparkt und verschoben in andere Stationen, auf denen noch Platz ist. Ich bin selbst in einem Zimmer auf der anderen Seite des Flurs ins OP-Bett gestiegen und nun habe ich im Parallelstrang eingecheckt. Meine persönlichen Sachen lagerten solange im Schwesternzimmer.
Mir wird während meines Aufenthalts der Unterschied zwischen Schwester und Pfleger nicht so richtig klar. Wer darf was, wer macht was? Nur meine Bettnachbarin ist sich sicher, dass der junge Mann, der sie zur Nacht versorgt, kein ausgebildeter Pfleger ist. „Holen Sie die Polizei, das ist kein Pfleger“, schwebt ihre heisere Stimme zu mir, „Der macht alles falsch!“
Ich bin müde und ziemlich sicher, dass der Mann in der Pflegeuniform sein Bestes tat. „Er hat doch sogar eine Schwester zur Unterstützung dazu geholt“, beschwichtige ich die schwerkranke Frau.
„Haben Sie ein Handy dabei?“, fragt sie. „Können Sie meinen Sohn anrufen oder meine Freundin und denen erzählen, was hier los ist?“
Ich verspreche es ihr, wenn wir uns darauf einigen, bis zum Hellwerden mit dem Anruf zu warten und erstmal versuchen zu schlafen.
Am Morgen ist zum Glück Torsten wieder da. Er verbringt mehr Zeit in diesem Zimmer, als rechnerisch möglich ist. „Wenn ich Einen hätte, der den ganzen Tag hierbleibt“, sagt er und meint jemanden, der meiner Nachbarin die Neigung des Bettes einstellt, die Kissen und die Decke zurecht rückt, den Arm, den Kopf, den Hals bequem lagert, nachdem sie gewaschen ist und ihr den Strohhalm des Getränks dann in den Mund schiebt, wenn sie dazu bereit ist, das Brötchen anreicht und sie in ihrem Tempo kauen lässt, bis sie genug gegessen hat, um die Medikamente einnehmen zu können.
Nichts davon kann ich ihm abnehmen. Nur das Fenster öffne und schließe ich auf ihre Bitte, ich drücke die Tasten auf ihrem Telefon und den Knopf, um das medizinische Personal zu rufen. Wieder steht Torsten an ihrem Bett und versucht, es irgendwie besser zu machen, als die Schwestern und Pfleger mit eingeschränkten Deutschkenntnissen und so wenig Zeit, dass weder ihre Fragen noch ihre Antworten einen vollständigen Satz darstellen.
Den Pflegekräften hier ist nichts Menschliches fremd. Torsten lehnt keinen Wunsch ab, fragt nicht nach dem Warum eines Anliegens und äußert kein Wort Kritik oder Jammern über seine Tätigkeit. Ohne Zögern und Naserümpfen wechselt er Pflaster, Getränkegläser, Bettwäsche und Windeln und ist immer noch zu einem Witz bereit. Wie schafft er das, fragt ich ihn. In seiner Freizeit geht er Schwimmen und Laufen, fährt Fahrrad und macht Kraftsport (Triathlon?), früher ist er sogar Marathon gelaufen. Ein Ausdauersportler. Genau so einen braucht diese Station und eigentlich jede andere im Krankenhaus auch.
Es ist Sonntagmittag, als Torsten mir meinen Entlassungsbrief bringt. Eigentlich sollte der Arzt längst da gewesen sein. Wenn er binnen einer halben Stunde nicht zu mir gekommen ist, kann ich trotzdem schon nach Hause. Torsten wirkt müde oder traurig, das lustige Leuchten in seinen Augen ist klein geworden.
Im Hinausgehen komme ich an einer Pinnwand mit Dankeskarten von Patienten vorbei.
„Wir haben letzte Woche alle Karten runtergenommen“, ruft Torsten mir hinterher. „Die Pinwand war voll, die da sind alle neu.“
Vier verschiedene Karten, alle mit gleichem Inhalt. Sie bedanken sich für die Herzlichkeit, für die Hoffnung, für die warme Menschlichkeit im überhasteten Chaos eines Klinikkolosses.