21. Juni 1945
Die ganze Zeit, während ich mich anziehe, denke ich an den Hausschlüssel, der unten neben der Tür an seinem Platz hängt. Wie ein Kettenhemd scheuern die Schichten aus Unterhemd, kurzer und langer Bluse, Weste und Jacke auf meiner schweißnassen Haut. Das Foto meiner Freundin liegt als knittriges Schild über meiner Brust, doch es schützt mich nicht vor dem, was nun kommt. Ich schließe die Schranktüren ein letztes Mal und schaue zu Inge, meiner kleinen Schwester, die in Stiefeln und ihrem besten Kleid auf unserem Bett hockt. Seit wir aufgefordert wurden, das Grundstück zu verlassen, sieht sie das Zimmer, in dem wir groß geworden sind, nicht mehr an. Sie erträgt die leeren Bilderrahmen nicht.
„Zieh den Mantel an“, sage ich. „Außer dem Koffer darfst du nur mitnehmen, was du am Leib hast.“ Inge bläst die Wangen auf, schlingt die Arme enger um die Schultern. „Dann lege ich mir die Kaninchen als Schal um den Hals.“
Ich verstehe sie gut. Mit sechzehn Jahren hätte ich meine Wut auch nicht gebremst. Außerdem hat sie recht. Wir haben den Bombenangriff überlebt, haben ein Dach über dem Kopf mit einem Garten drum herum und Frieden vor der Tür. Wofür, wenn wir nicht geduldet werden? Wir sind hier geboren, Tetschen-Bodenbach ist unsere Heimat.
„Sie haben uns ja noch nicht mal gesagt, wo wir hinsollen.“
„Ach, Ingilein“, ich streiche ihr über das junirote Haar. Ihre zarten Locken kitzeln in meiner Halskuhle, als sie sich an mich schmiegt. „Ich suche uns ein neues Zuhause“, sage ich und atme den Duft ihrer Kopfhaut. „Eins wie hier, schöner noch. Mit größerem Garten.“
Inge schluchzt auf. „Ja, das hätte Mama gefallen.“ Stille. Ruhe wie auf dem Friedhof. Ich mag nicht daran denken, dass wir Mamas Grab nie wieder besuchen werden. Die Kette mit dem flachen Herzanhänger kratzt unter meiner Bluse.
Bedeutungsschwer ruckt der Uhrzeiger auf die Zwölf. Ich lasse Inge los, renne zum Fenster, reiße die Vorhänge zurück. Es hat keinen Sinn, so zu tun, als seien wir nicht da. Auch dann könnten wir nichts behalten. Auch dann wird eine neue Familie in unser Haus einziehen. Eine tschechische Familie. Pavel vielleicht.
Er kennt jeden Winkel von den Versteckspielen, hat mich sommers wie winters in die heimlichen Ecken des Gartens gezogen, meine Lippen brannten vom ersten neugierigen Kuss und werden nun rissig vor Sehnsucht.
Er steht neben dem Pritschenwagen, der uns zum Bahnhof bringen wird. Ich habe das Auto nicht kommen hören, so sehr habe ich mich bemüht, nichts zu hören, was diese Mauern gespeichert haben. Gleich muss ich an Pavel vorbei auf die Ladefläche steigen, werde ihn riechen, den Schweiß der Hofarbeit, der mich an andere Tage in seiner Nähe erinnert. Wie soll ich das Reißen unter meiner Haut ertragen?
Ich wische mir die Wangen trocken, drücke Inge fest an der Schulter und gehe mit meinem Pappkoffer langsam hinaus. Hinter mir höre ich, wie Inge den Mantel über die Jacke zieht, sich nach ihrem Koffer bückt und mir folgt.
Der Schlüssel zum Haus hängt noch an seinem Haken.