Die Welt hat einen Engel mehr – meine Omi.

Mit 98 1/2 Jahren hat sie Flügel verliehen bekommen. Natürlich ging sie an Weihnachten!
Ich bin dankbar und doch zerreißt mich ihr Fortgang. Wir sind eben Menschen!

Am 14.12.22, als ich sie das letzte Mal besuchte, war sie längst nicht mehr da. Jahre zuvor haben Frau Alzheimer und Herr Demenz die Gedanken meiner Omi mit Geschwätz betäubt und die Wirbelbrüche der Familie Osteoporose beraubten sie ihrer Beweglichkeit. Es tat unglaublich weh, sie so zu sehen und nicht helfen zu können.

Im Anschluss schrieb ich eine Kurzgeschichte aus Erinnerungen an schöne Zeiten, mit meiner eigenen Hilflosigkeit und guten Wünschen für sie und unbelehrbarer Hoffnung auf Besserung. Seit fünf Tagen ist der Text fertig. Es hätte der Beitrag für den nächsten Auftritt sein sollen. Aber hier ist sie, die Geschichte. Für dich, meine liebste Omi.

Irgendwann vielleicht
„Noch mal“, ruft das kleine Mädchen ins Dunkel. „Noch mal über das Seil!“
„Nein, das reicht. Deine Nabelschnur soll nicht verheddern. Außerdem muss ich los.“
„Kommst du wieder?“
„Irgendwann vielleicht.“
„Erkenne ich dich dann?“
„Kann schon sein. Bis dann.“

Die Frühlingsluft lässt erste Knospen vor dem Krankenhaus sprießen. Ungeduldig liegt das Mädchen im Bett. Nach dem schweren Ski-Unfall hofft sie, bald ohne Apparate atmen zu können.
Unerwartet bekommt sie Besuch.
„Hallo, wer bist du denn? Du hast dich bestimmt im Zimmer geirrt.“
„Ja, wahrscheinlich. Vielleicht auch nicht. Mein Name ist Totti. Wie geht es dir?“ Dem Jungen ist der Mantel viel zu lang. „Irgendwie habe ich den Anschluss verloren. Das passiert mir dauernd.“
„Kann ich dich aufmuntern? Ich weiß nicht mal, welcher Tag heute ist.“
„Ich auch nicht. Offensichtlich nicht unserer.“
Sie lachen beide.
„Das tat gut. Mir geht es schon viel besser. Danke für deinen Besuch, Totti. Vielleicht sieht man sich wieder.“
„Ja, irgendwann vielleicht.“

London im Sommer. Lauwarme Wolken über der Stadt, Hochbetrieb auf der Millenniumbrücke. Der Ruhepunkt mittendrin: ein Mädchen, das den schwarzen Wellentanz unter sich beobachtet.
„Was siehst du?“, fragt ein junger Mann in elegantem Mantel.
„Nichts“, sagt sie. „Ich kann überhaupt nichts sehen, und ich will auch nicht.“ Sie dreht sich zu ihm, er bemerkt ihre verheulten Augen.
„Liebeskummer?“ Sie nickt.
„Wenn du willst, bleibe ich bei dir, bis du genug siehst, um weitergehen zu können.“
Sie nickt und schaut wieder aufs Wasser. Nach einer Weile blickt sie ihn an. „Wer bist du?“
„Mein Name ist Todd.“
„Ich hätte heute auf einer Hochzeit tanzen sollen. Magst du mit mir tanzen?“
„Tut mir leid, ich kann das nicht. Sonst gerne. Außerdem muss ich los, ich bin spät dran.“
„Sieht man sich wieder?“
„Irgendwann vielleicht.“

Wind treibt feuchtes Laub gegen die Grabsteine. Das reife Mädchen wendet sich von dem bepflanzten Hügel ab. Ein Mann im langen Mantel kreuzt ihren Weg.
„Guten Tag“, sagt sie. „Ich kenne Sie, Sie standen neben dem Baum dort drüben.“
„Ich wusste nicht, dass Sie mich bemerkt haben.“
„Es kommen nicht viele Leute her. Man sagt, auf dem Friedhof sucht der Tod sein nächstes Opfer.“
„Aber Sie glauben nicht daran?“
„Nein. Ich denke, im Pflegeheim hat er mehr Auswahl. Sie erinnern mich an Jemanden.“
„So, an wen denn? Jemand Nettes, hoffe ich.“
„Er hieß Todd, und ja, in seiner Gegenwart war ich nicht so traurig. Sie sehen aus wie er, nur älter. Schade, wir haben uns nie richtig kennengelernt. Danke, dass Sie mich an ihn erinnern.“
„Gern geschehen. Ich muss los.“
„Kommen Sie wieder her, irgendwann?“

Blasses Winterlicht fällt durch das Fenster. Das alte Mädchen liegt kraftlos im Bett. Jeder Tag streicht grau über sie hinweg. Plötzlich bemerkt sie, wie eine hohe Gestalt das Zimmer betritt.
„Wer bist du?“, fragt sie. „Du kommst mir bekannt vor.“
„Guten Tag, meine Liebe. Ich bin Totti, und Todd bin ich auch.“
„Verstehe, Gevatter. Du bist alt geworden. Wo warst Du so lange?“
„Beschäftigt, es gab viel zu tun.“
„Damals, auf der Brücke, hätte ich so gern mit dir getanzt. Heute kann ich es leider nicht mehr.“
„Es wird gehen, wenn ich dich in den Arm nehme.“
„Irgendwann vielleicht?“
„Was spricht gegen jetzt?“