Wo kommt das her?

Das letzte Stück Weg zu meinem Bürojob könnte ich innerhalb fünf Minuten mit nur drei U-Bahnstationen zurücklegen. Doch nicht erst seit Corona laufe ich lieber zu Fuß. Berlins Mitte zeigt mir früh morgens, um kurz vor sechs, ein verschlafenes Gesicht. Die Stille auf dem Gendarmenmarkt hat etwas Weiches, irgendetwas zwischen Kissen und Federbett. Wo letzten Sommer jeden Nachmittag Touristengruppen, Hochzeitsgesellschaften, Studententreffen und Geschäftsbesprechungen durchgeführt, fotografiert und abgehalten wurden, sind nun Schatten und Schrittgeräusche meine einzigen Begleiter.

Umso erstaunter bemerke ich die festliche Beleuchtung ringsum. Jede Lampe ist in Dienst berufen. Die ansässigen fünf-Sterne-Hotels beherbergen kaum Gäste. Dennoch scheint der Anblick der Entrees ein wahres Fest im Innern zu versprechen. Die Bauzwillinge, der Französische und der Deutsche Dom strahlen golden um die Wette. Gewinner ist das Schauspielhaus dazwischen mit rotem Stimmungslicht, das jeden Sonnenaufgang verblassen lässt. Der Platz wirkt auf mich wie ein Christbaum nach dem Fest, dem die Lichterkette noch umhängt. Hier, im deutschen Herzen der EU, wird der Wahlspruch der Schotten (Lasst das Licht an, wir kommen zurück!) ernst genommen und für die eigene Krise benutzt.

Der Schneeregen macht das historische Pflaster noch einsamer. Andere eilige Seelen nehme ich nicht wahr, so tief ducke ich mich unter den Schirm. Den Blick nach unten gerichtet, husche ich durch ein paar Flocken, die so einzeln wie ich unterwegs sind. Es könnte glatt sein. Bloß nicht ausrutschen. Der Bruch im Handgelenk ist gerade am Verheilen, das Metall hält ihn noch zusammen.

Zwischen zwei grauen Steinen am Ende des Platzes schimmert es kupferfarben und rund. Ein eingesunkener Kronkorken vielleicht? Ich schubse das Blinken mit der Stiefelspitze, es hopst eine Ritze weiter. Ich bücke mich und halte ein fünf-Cent-Stück in den Fingern. Wo kommt das denn her? Schon lange sind die Geschäfte und Restaurants geschlossen. Seit Wochen flanieren hier keine Besucher, deren Geldbörsen locker genug sitzen, dass Bettler ihnen ein paar Münzen abluchsen könnten. Obdachlose habe ich ewig nicht gesehen. Verschwanden sie vor den Besuchern? Außerdem ist selbst in Bistros und Imbissbuden der Zahlungsverkehr auf bargeldlos umgestellt.

Mehr und mehr begreife ich unter diesen Umständen mein Glück, ein Centstück gefunden zu haben. Noch dazu ohne Tageslicht und bei miesem Wetter! Wieder fällt mir die Geschichte mit dem Glückscent ein, den man für den Nächsten „verlieren“ soll, damit dem Finder ein kleines Lächeln passiert. Ich stecke die fünf-Cent-Münze ein, einen Moment behalte ich sie noch.